ERINNERN, HOFFEN UND WIDERSTAND LEISTEN: BEFREIUNG IST EIN AUFTRAG
Rede zum Tag der Befreiung, beim Denkmal der Namen in Villach, am 14. Mai 2025
Werner Wintersteiner
1. ERINNERN IST VERANTWORTUNG
Geschichte ist kein Schicksal, das uns auferlegt ist, und sie ist keine Entschuldigung für unsere Willkür; sie ist auch nicht die Kontrastfolie, an der wir zufrieden unseren Fortschritt messen können; sondern sie verweist uns auf die Aufgaben, vor denen wir stehen!
„Erinnern“, sagt deswegen Aleida Assmann, die Doyenne der Erinnerungskultur, „Erinnern heißt, Verantwortung übernehmen.“
Es hat ziemlich lange gedauert, bis sich diese Einsicht durchsetzte. Zuerst lebten wir mit dem Mythos vom ersten Opfer Hitlers, beanspruchten die volle Unschuld und erinnerten uns nur an das eigene Leid. Erst viel später kam die Erinnerung an die vornehmlich jüdischen Opfer in Gang, und die Stimmen der Überlebenden erhielten Gehör. „Schließlich folgte auch die persönliche Auseinandersetzung mit den Familiengeschichten der Täter, und bis heute warten noch immer weitere Opfer des Krieges und der Verfolgung auf ihre Anerkennung und Würdigung. Während sich bereits neue Kriegstraumata aufbauen, sind wir aus dem langen Schatten dieser Vergangenheit noch nicht herausgetreten.“ (Assmann)
Darum ist es so wichtig, dass im heurigen Jubiläumsjahr, dem Jahr des Erinnerns, im ganzen Land, ja in ganz Europa und vielen Teilen der Welt der Befreiung vom Nationalsozialismus, vom Faschismus und der Beendigung des Zweiten Weltkriegs nach sechs schrecklichen Jahren gedacht wird. Je weniger Zeitzeuginnen und –zeugen noch leben, je weiter sich also das Generationengedächtnis von der NS-Zeit entfernt, desto dringender brauchen wir das stabile Gerüst einer Gedenkkultur an die ermordeten Jüdinnen und Juden Europas und all die anderen Opfer des Nationalsozialismus.
Das alles wird heute noch brisanter – in einer Situation, wo die Aushöhlung der Demokratie voranschreitet, wo sich neue faschistische Tendenzen allerorts ausbreiten, und wo fürchterliche Kriege wüten, die unversehens wieder zu einem Weltkrieg führen können. Gerade in so einer Situation heißt Verantwortung übernehmen: Verantwortung dafür, dass sich vergangene Gräuel nie wieder wiederholen, aber auch Verantwortung dafür, dass sich bislang versäumte Möglichkeiten eines besseren Lebens endlich erfüllen. Wir müssen also das Gedenken zu einer Kraftquelle werden lassen für die Bewältigung der heutigen Herausforderungen. In diesem Sinne möchte ich meine Rede unter das dreifache Motto stellen: Erinnern – Hoffen – Widerstand leisten.
2. VERGANGENES HISTORISCH ARTIKULIEREN
Es ist dabei entscheidend, wie wir dieses Erinnern anlegen. Denn es gibt ganz grundverschiedene Arten, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Wir können es uns heute jedenfalls nicht leisten, selbstgerecht festzustellen, wie weit wir es nach 1945 gebracht haben; dankbar dafür, dass es uns heute gut geht und dass wir den Weg der Demokratie eingeschlagen haben; dass wir heute die Guten sind, die die Lehren der Geschichte ein für allemal verstanden haben. Es bringt uns auch ein Erinnern nicht weiter, bei dem wir mit dem Finger warnend auf die wachsende Zahl derer zeigen, die den rechtsextremen und faschistischen Parteien nachlaufen; und die wir als die anderen sehen, die, die wir verurteilen, ohne uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Denn all das ist ein Erinnern, das uns nur bestärken will in unserem Selbstbild und in unserer Selbstgefälligkeit. Es ist ein Erinnern, aus dem wir nichts lernen für das, worauf es heute ankommt.
Um als Erinnerung lebendig zu bleiben, bedarf es der Inszenierung, des Rituals, der Wiederholung. Dafür sind Jubiläen und Jahrestage da. Doch es muss ein lebendiges Ritual sein, das uns immer wieder aufs Neue für den schwierigen Umgang mit unserer Gegenwart wappnet. Der von den Nazis verfolgte Philosoph Walter Benjamin hat gesagt, Erinnern heißt, Vergangenes historisch zu artikulieren. „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“ Pathetisch gesprochen: Die Erinnerung als unser Rettungsanker in der Stunde der Not. Darum muss, so meine ich, jedes Erinnern an Weltkrieg und Faschismus, an die Shoah und an die Atombombe, ein immer neues Erschrecken sein, als wäre es das erste Mal:
Ein Erschrecken darüber, was Menschen einander antun können. Ein Erschrecken darüber, dass auch wir selbst uns nicht sicher sein können, wie wir uns unter den Bedingungen von Gewaltherrschaft verhalten hätten. Vor allem aber ein Erschrecken darüber, wie leicht es offenbar ist, dass Diktatoren an die Macht kommen oder Kriegstreiber die öffentliche Meinung beherrschen. Das alles sind Momente, wo Vergangenheit und Gegenwart unmittelbar aufeinander stoßen, wo Vergangenes historisch artikuliert werden muss.
Als wir darangingen, eine Kampagne für ein Denkmal der NS-Opfer in Villach zu errichten, wählten wir dafür die Losung „Erinnern heißt Versöhnen – Versöhnen heißt Erinnern“. Es ging uns darum klarzumachen, dass das Schweigen über die NS-Verbrechen und das Verschweigen der NS-Opfer endlich aufhören muss. Es muss Schluss sein mit der Politik des Schluss-Strichs. Es geht vielmehr darum, sich der Geschichte zu stellen und Verantwortung zu übernehmen. Das erinnert durchaus an den Spruch des Rabbi Israel ben Elieser, des Begründers der chassidischen Bewegung, wie er in Yad Vashem zu lesen ist: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“. Es ist kein selbstgerechtes Erinnern – es ist ein dialogisches Erinnern, in dem das den Anderen zugefügte Leid ins eigene Gedächtnis mitaufgenommen wird. Das ist besonders relevant in unserer Alpen-Adria-Region, mit der langen Gewaltgeschichte im Dreiländereck Österreich, Italien und Slowenien bzw. Jugoslawien, wo es oft um wechselnde Täter- und Opfer-Konstellationen geht, die wir alle gegenseitig anerkennen müssen. Denn, um nochmals Aleida Assmann zu zitieren, „Der Vergangenheit entkommt man nur durch Erinnern.“ Die Erinnerung als Instrument, um die lange Tradition der Gewalt zu überwinden: Das ist eine gesamtösterreichische Aufgabe, aber es ist auch eine europäische Aufgabe, und letztlich ein kosmopolitisches Anliegen.
Denn wir müssen den Bogen noch weiter spannen, als wir es bislang getan haben. Ich denke, das heurige Jubiläumsjahr ist auch ein guter Anlass, die ERINNERUNG AUSZUDEHNEN AUF ALLE OPFERGRUPPEN – auch auf jene, derer üblicherweise nicht gedacht wird. Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete nicht das Ende der Gewalt in den Kolonien. Während am 8. Mai das Ende der NS-Herrschaft in vielen europäischen Staaten gefeiert wurde, kam es in den algerischen Ortschaften Sétif, Guelma und Kherrata zu gewaltsamen Protesten arabischer Demonstranten gegen die französische Kolonialherrschaft. Sie erinnerten an das Versprechen General de Gaulles, dass ihnen als Belohnung für ihr Mitwirken an der Niederschlagung des Nationalsozialismus weitgehende Autonomie zugestanden würde. Frankreich reagierte mit einem massiven Militäreinsatz, dem innerhalb eines Monats nach heutigen Schätzungen zwischen 20.000 und 30.000 Algerier zum Opfer fielen. Die Stunde der Befreiung Europas war aus kolonialer Perspektive eine der blutigsten der europäischen Kolonialgeschichte.
Es blieb die bittere Erkenntnis der Menschen in den Kolonien, dass wir in Europa auch die Verbrechen mit zweierlei Maß messen. Der Dichter Aimé Césaire hat beklagt, dass im Grunde das, was die europäische Welt „Hitler nicht verzeiht, nicht das Verbrechen an sich, das Verbrechen gegen den Menschen ist, nicht die Erniedrigung des Menschen an sich, sondern das Verbrechen gegen den weißen Menschen, die Erniedrigung des weißen Menschen und dass er, Hitler, kolonialistische Methoden auf Europa angewendet hat, denen bislang nur die Araber Algeriens, die Kulis Indiens und die Schwarzen Afrikas ausgesetzt waren.“ Hängen nicht viele heutige Probleme mit diesem partiellen, eurozentristischen und ungenügenden Erinnern zusammen?
Erinnern an den 8. Mai 1945 bedeutet aber noch viel mehr. Es ist auch ein ERINNERN AN DEN WIDERSTAND, der letztlich zur Überwindung von Nationalsozialismus und Gewaltherrschaft geführt hat. Es ist ein Erinnern an all die Bemühungen um eine gerechte Friedensordnung, wie sie durch die Schaffung der Vereinten Nationen – wie unvollkommen auch immer – intendiert war. Und damit die Erinnerung, dass das Verbot kriegerischer Gewalt und die Verpflichtung zu gewaltfreier Konfliktbearbeitung dem Gründungsakt der UNO, ihrer Charta, eingeschrieben ist. Wie aktuell bedeutsam die Erinnerung an diese Errungenschaft ist, brauche ich nicht lange auszuführen.
Und in noch einem Sinne sollte unser Erinnern ambitionierter werden. Denn wir brauchen darüber hinaus eine ERINNERUNG AN ALL DIE HOFFNUNGEN, die den Widerstand der Antifaschistinnen und Antifaschisten beflügelt haben, an all die Erwartungen, die sich mit dem Tag der Befreiung verbunden haben. Denn ihnen war klar: Österreich kann nicht einfach nur von den Alliierten befreit werden, es muss sich auch selbst befreien – nicht nur durch den antifaschistischen Widerstand, sondern es braucht auch eine innere und eine geistige Befreiung von dem rassistischen und militaristischen Gedankengut, das die Nazis nicht erfunden, aber zu den brutalsten Höhepunkten weiterentwickelt hatten, es braucht auch eine Befreiung von innerer Knechtschaft, um den Mut zu entwickeln, von einer besseren Welt zu träumen und dementsprechend zu handeln.
Wir machen uns heute oft gar keinen Begriff mehr, wie viele Energien damals im Befreiungskampf in ganz Europa freigesetzt wurden. Es ist bewundernswert, welchen Mut, welche Phantasie und welche Kreativität diese Kämpferinnen und Kämpfer für eine bessere, demokratische, friedliche und gleichberechtigte Welt an den Tag gelegt haben. Auf den Spuren der Hoffnung – so lautet nicht zufällig der Titel der Autobiographie des slowenischen Widerstandskämpfers aus Kärnten, Tone Jelen, der etliche Zeit in mehreren Nazi-Gefängnissen inhaftiert war. Die Hoffnung auf Befreiung hat eine befreite Hoffnung in Gang gesetzt, voller Imagination und voller Tatkraft, die uns heute noch Vorbild sein kann und Impulse liefert.
-Befreiung – das meinte zunächst vor allem Befreiung der Frau aus den patriarchalen Zwängen. Der Widerstand ging mit einem neuen Selbstbewusstsein einher. Es ist kein Zufall, dass in der Freien Republik Ampezzo, dieser kurzlebigen Partisanendemokratie nur wenige Dutzend Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt, die Frauen erstmals in Italien das Wahlrecht erhielten. Beim slowenischen Widerstand – auf beiden Seiten der Grenze – wurden eigene Frauenorganisationen eingerichtet, die für ihre Rechte eintraten, wie die eindrucksvolle Ausstellung „Der weibliche Name des Widerstands / Žensko ime odpora“, derzeit im Dinzlschloss, dokumentiert. Wenn man bedenkt, wie lange dann auch im befreiten Österreich noch die rein rechtliche Gleichstellung der Frauen gedauert hat!
-Befreiung – das war der Wunsch nach einem neuen Europa, wie es die zwei italienischen Antifaschisten Altiero Spinelli und Ernesto Rossi entwarfen. Von Mussolini auf die Mittelmeerinsel Ventotene verbannt, verfassten sie das MANIFEST VON VENTOTENE, den Plan für ein vereintes Europa, der viel weitreichender und demokratischer war, als das, was schließlich die Europäische Union geworden ist: Es war die großartige Vision der Vereinigten Staaten von Europa auf durchgehend demokratischer Basis. Der Unterschied zu dem Europa, wie wir es haben, in dem zwar die Einheit immer beschworen wird, in dem aber die einzelnen Länderfürsten und –fürstinnen aus purem Machtinteresse immer wieder die nationale Karte zücken und jede echte Gemeinsamkeit verhindern, könnte nicht eklatanter sein.
-Befreiung – das war der Anspruch auf SOZIALE GERECHTIGKEIT, wie er in der Zweiten Republik auch anfänglich gemeinsam angestrebt wurde. Die Verstaatlichung der Schlüsselindustrie sollte sicherstellen, dass der Wiederaufbau allen zugutekommt, die Mechanismen der Sozialpartnerschaft sollten eine faire Konfliktregelung zwischen Arbeit und Kapital sicherstellen; der Sozialstaat beruhte auf der Verpflichtung der Regierenden, für einen sozialen Ausgleich zu sorgen. Heute hingegen stehen hohe Politiker vor Gericht, weil sie sich persönlich bereichert haben, und die soziale Schere geht wieder drastisch auf: Das reichste eine Prozent der österreichischen Bevölkerung besitzt 40 % des gesamten Nettovermögens; die unteren 50 Prozent verfügen zusammen nur über knapp 3 % (AK 2020). Und obwohl wir bekanntlich ein riesiges Sparprogramm bewältigen müssen, ist unsere Regierung sorgsam darauf bedacht, nur ja keine Erbschafts- und Vermögenssteuern einzuführen.
-Befreiung – das meinte in Kärnten/Koroška das entschiedene Bemühen, den Konflikt zwischen den beiden Volksgruppen endgültig zu überwinden, indem beiden die gleichen Rechte gewährleistet werden und ALLE KINDER BEIDE LANDESSPRACHEN LERNEN – unabhängig von jeder Zugehörigkeit zu einer Sprachgruppe. Im Oktober 1945 beschloss die Landesregierung eine Minderheitenschulverordnung, die eine verpflichtende Zweisprachigkeit für alle Kinder in Südkärnten vorsah. Zweisprachiger Unterricht für alle Kinder wenigstens in den ersten drei Schulstufen, verpflichtender Slowenischunterricht in der vierten Schulstufe – für alle 107 zweisprachigen Volksschulen, die das gesamte slowenisch bewohnte Gebiet Kärntens umfassten. „Wir fragen das Kind nicht, ob deutsch oder slowenisch, sondern fordern die Erlernung beider Sprachen von jedem Schüler. Wir sind der Überzeugung, daß dies zum Vorteil der Völker ist, die unser Land bewohnen“, verkündete damals LH-Stellvertreter Hans Ferlitsch (ÖVP). Sobald Österreich den Staatsvertrag in der Tasche hatte, konnte es nicht schnell genug gehen, auf diesen Vorteil der Völker wieder zu verzichten!
Jedes Erinnern an die Befreiung und das Kriegsende muss also auch Erinnerung sein an die in vielem unerfüllten Hoffnungen, an nicht zu Ende gebrachte Aufgaben, an unverwirklichte Utopien eines besseren Lebens. An die ungenützten Chancen und die versäumten Gelegenheiten.
Und so müßig es auch ist, darüber nachzudenken, was aus unserem Land, unserem Kontinent, unserer ganzen Welt hätte werden können, hätten wir uns nur die Ambitionen dieser Frauen und Männer aus der Pionierzeit zu eigen gemacht, so wichtig ist es zu überprüfen, wie wir die damaligen Ziele unter den heutigen Bedingungen umsetzen könnten.
3. HOFFEN UND WIDERSTAND, HOFFEN AUF WIDERSTAND
Ich denke, wir brauchen dieses Erinnern an die Hoffnungen von damals auch deshalb, weil wir selbst eine düstere Zukunft vor Augen haben. Und heute machen sich viel zu oft Gleichgültigkeit und Resignation breit.
Wenn es Mitternacht wird im Jahrhundert nennt der französische Philosoph Edgar Morin seinen Essay, in dem er Bilanz zieht über die heutige Zeit. Damit greift er den Titel eines Romans von 1939 auf, um darauf hinzuweisen, dass auch im dunkelsten Moment Hoffnung aufkeimen kann. Er macht sich keinerlei Illusionen über unsere heutige Situation: „Wir befinden uns derzeit nicht unter feindlicher militärischer Besatzung“, sagt er, „sondern werden von gewaltigen politischen und wirtschaftlichen Mächten beherrscht und sind von der Errichtung einer Gesellschaft der Unterwerfung bedroht; wir sind dazu verurteilt, den Kampf zwischen zwei imperialen Giganten und den möglichen kriegerischen Ausbruch des dritten zu erleiden; wir werden in einen scheinbar vorhersehbaren Wettlauf in Richtung Katastrophen hineingezogen, der unweigerlich Ungewisses und Unvorhergesehenes mit sich bringt“, so Morin. Und dennoch sieht er Grund zur Hoffnung – einer Hoffnung, die auf der unbeirrten Bereitschaft zu Widerstand beruht. Und Morin betont: „Die Bastionen des Widerstands befinden sich in den Köpfen der Menschen. Der erste und grundlegende Widerstand ist der Widerstand des Geistes.“ Diesen Widerstand des Geistes zu mobilisieren, auch dazu mögen die heurigen Gedenkfeiern dienen. Denn wir sollten bedenken, so wieder Morin, „Die Tunnel sind nicht endlos, das Wahrscheinliche ist nicht das Gewisse, das Unerwartete ist immer möglich.“
Ich möchte ein Beispiel aus der NS-Zeit für diesen „Widerstand des Geistes“ anführen. Das Beispiel einer Frau, die es gewagt hat, eigenständig zu denken und mutig zu handeln, unabhängig von allen persönlichen Konsequenzen. Ich rede von Josefine Kofler, die mit ihrer Familie hier in Villach lebte. Sie hatte den Mut, auch unter den Bedingungen der Diktatur ihre Ablehnung des Nationalsozialismus auszusprechen. Mehrfach wurde sie wegen ihrer „staatsfeindlichen Einstellung“ denunziert. Als im Winter 1944 russische Zwangsarbeiter*innen unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen im Hof ihrer Wohnanlage in Villach Lind einen Luftschutzstollen errichten mussten, versorgte Josefine Kofler sie trotz Verbots mehrmals mit Essen. Und als ihre Tochter zum Arbeitsdienst in der Kärntner Maschinenfabrik antreten sollte, beschwerte sie sich beim Arbeitsamt mit den Worten: „Ich lasse meine Tochter nicht zu Kriegsverlängerungszwecken missbrauchen.“ Daraufhin wurde sie verhaftet und ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück eingeliefert, wo sie im Dezember 1944 ermordet wurde. Menschen wie sie sind Vorbilder und Ansporn für uns, auch wenn ihre Heldentaten von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt bleiben.
Heute, so scheint mir, ist uns oft dieser Widerstandsgeist verloren gegangen, aber auch jede Orientierung. Wir vertrauen allzu oft den fake news in den sozialen Medien, aber auch der Einheitsmeinung der so genannten seriösen Presse. Wir haben uns daran gewöhnt, mit den Wölfen zu heulen und haben jedes Staunen, jede Irritation verdrängt.
Wie können wir uns unter der Losung Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg! versammeln, aber zugleich eine massive Aufrüstung gutheißen, „Kriegstüchtigkeit“ – wohlgemerkt „Kriegstüchtigkeit“, nicht etwa Verteidigungsbereitschaft – propagieren und in all den drei Jahren, die der russische Angriff auf die Ukraine nun andauert, jede Verhandlungslösung ausschließen? Wie können wir behaupten, dass wir mit der Gründung der UNO eine Friedensordnung geschaffen haben und zugleich vergessen, dass jede Sicherheit nicht in der Abschreckung des Gegners, sondern in der geteilten, der gemeinsamen Sicherheit besteht? Wie können wir über die Tragödie des palästinensischen Volkes in Gaza hinwegsehen? Einst war Europa sich einig in der Zielsetzung für Frieden und gegen Nationalismus. Heute droht Europa zu zersplittern in seiner Haltung gegen Frieden und für Nationalismus. Wie können wir es hinnehmen, dass das größte Problem, die existentielle ökologische Gefährdung, aus dem Blick gerät? Dass diese Hauptaufgabe, die die gemeinsame Anstrengung der gesamten Menschheit erfordern würde, angesichts von Krieg, nationalem Streit und wirtschaftlicher Gier in den Hintergrund gedrängt wird?
Gerade heute, wo wir mit dem 8. Mai das Ende des schrecklichen Weltkriegs feiern, sollten wir uns an die Worte des Papstes Franziskus erinnern: „Der Weg des Friedens hat seine Risiken, aber weiter auf Waffen zu setzen, ist kein bisschen weniger riskant. Der Zwang zum ewigen Wettrüsten verwüstet die Seele und bindet gewaltige Ressourcen, die sonst zur Verfügung stünden für den Kampf gegen den Hunger, für eine gute medizinische Versorgung aller und für mehr Gerechtigkeit. Ressourcen, um endlich den einzig möglichen Weg einzuschlagen, um der Selbstzerstörung der Menschheit zu entgehen.“
4. DAS DENKMAL DER NAMEN ALS ORT UND SYMBOL DER ERINNERUNG
Das Denkmal der Namen, vor dem wir uns heute versammelt haben, ist nicht nur der Ort der Erinnerung, es ist auch ihr Symbol.
Es erinnert an die Opfer, es gibt ihnen ihre Namen, ihre Biografie, ihre Würde zurück.
Es verschweigt nicht die Täter und ihre Taten.
Es erinnert an den Widerstand – gegen Unmenschlichkeit, gegen Diktatur, gegen rassistische Verfolgung, gegen den Krieg.
Es erinnert an die Hoffnungen und den Einsatz für eine bessere Welt – für Gleichberechtigung, ein gutes Leben für alle, für Frieden.
Es steht selbst da als Denkmal seiner selbst – als Zeugnis und Ort einer lebendigen Erinnerungskultur. Das Denkmal der Namen ist schließlich entstanden als ein Akt des Widerstands! Es konnte nach vielen Bemühungen 1999 errichtet werden, 50 Jahre nachdem ein erster Antrag im Gemeinderat abgelehnt worden war. Dass wir heute hier gemeinsam versammelt sind, gibt uns Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die Schaffung des Denkmals war ein Schritt zu unserer eigenen Befreiung, die wir heute feiern wollen, wenn wir der Befreiung vor 80 Jahren gedenken. Somit verkörpert das Denkmal der Namen die Botschaft, die ich heute übermitteln möchte: Erinnern, Hoffen, Widerstand leisten!