Mein sehr geehrten Damen und Herren,
an Gedenkstätten wie dieser, von denen es in unserer Welt viele und leider noch viel größere gibt als diese hier in Villach, wird für gewöhnlich, anders als am heutigen Tag, wenig geredet. Menschen kommen hierher, um anderen Menschen, die ermordet wurden von Angehörigen und Sympathisanten eines Unrechtsregimes, schweigend ihre Reverenz zu erweisen, und ihren Willen zu bekunden dazu beizutragen, dass dergleichen nie wieder geschehe. Damit aber diese Form öffentlichen Schweigens, dieses Schweigen der Besinnung und Erinnerung an dieser Stelle überhaupt möglich ist, hat es den Willen und die Anstrengung Einzelner bedurft, die Ermordeten der Anonymität zu entreißen, ihnen, denen in verbrecherischer Weise ihr Leben genommen wurde, zumindest ihre Namen und ihre Würde wiederzugeben. Nicht alle waren damit einverstanden, manche hätten es lieber verhindert. Es hat bis 1999 gedauert, dass dieses Denkmal errichtet werden konnte, Jahrzehnte lagen zwischen Untat und öffentlichem Gedenken, Jahrzehnte des Verdrängens und Vergessens, auch, freilich bei den Wenigeren, des Nicht-Vergessen, Nicht-Verdrängen-Könnens, siebzig Jahre des Schweigens.
Von diesem Schweigen und insbesondere davon, wie es sich in der österreichischen Literatur dieser Jahrzehnte darstellt, soll im Folgenden die Rede sein, von diesem Schweigen in seinen unterschiedlichen Ausformungen, als ein bewusstes Verschweigen, Totschweigen einerseits, aber auch als ein Schweigen aus Scham oder erzwungenes Verstummen.
Vor ziemlich genau 91 Jahren, am 10. Mai 1933, wenige Monate nach der Machtergreifung durch die NSDAP in Deutschland, fand auf dem Berliner Opernplatz ein brachialer Akt der Geistesvernichtung statt. Vor den Augen des Reichsministers Goebbels, unter Mitwirkung Lehrender und Studierender an deutschen Universitäten und dem Jubel des zahlreich erschienenen Publikums wurden öffentlich Bücher verbrannt, deren Inhalte nicht den ideologischen Vorgaben oder deren Schöpfer nicht den Rassengesetzen des nationalsozialistischen Regimes entsprachen.
Österreich war zu diesem Zeitpunkt ebenfalls Diktatur, doch in vielen Dingen gemäßigter, auch was die Literatur betraf. Unliebsame Bücher wurden nicht verbrannt, sondern nur aus den öffentlichen Bibliotheken entfernt. Zuständig dafür war ein gebürtiger Kärntner, der Staatssekretär und spätere Minister Guido Zernatto. Zernatto war eine höchst widersprüchliche Persönlichkeit. Selbst ein begabter Lyriker, Bewunderer des Dichters Theodor Kramer, der ihn anfangs auch förderte, hat er eines der schönsten Gedichte der österreichischen Literatur verfasst. Es heißt Die Sonnenuhr, „zittrige Schwüle“ herrscht darin, eine bedrohliche Stille. „Die Sonnenuhr an unsrer Kirchenwand blieb stehen“, so beginnt es, und es endet mit der Strophe: „Die Bauern waren auf den Feldern draußen. / Der Meßner schlief in seiner Stube unterm Turm. / Kein Mensch begriff. Nur meine Finger wiesen / gespreizt vor Angst ins Nichts. Dann stießen / Winde ins Tal und gegen Abend kam der Sturm.“
Zernatto, dem als Politiker Sozialisten und Nationalsozialisten gleichermaßen verhasst waren und der sich daher nicht scheute, auch die bewunderten Werke seines Förderers Kramer wegen dessen politischer Einstellung aus den Bibliotheken zu verbannen, wurde 1938 selbst hinweggefegt von dem Sturm, den er vorhergesehen hatte, und musste flüchten, bis nach New York, wo er 1943 39-jährig starb, „verloren“, in einem seiner letzten Gedichte, „wie ein Waldtier, das in Winternächten schreit“.
In Österreich, das inzwischen zur Ostmark geworden war, wurde schon bald nach dem Anschluss an Hitlerdeutschland das Verbrennen von Büchern freudig imitiert, stets begleitet von flammenden Reden begeisterter Pädagogen. Viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller waren von nun an zum Schweigen verurteilt oder wurden, schlimmer noch, ins Exil oder in Konzentrationslager getrieben. Andere erhoben ihre Stimme dafür umso lauter, in Kärnten beispielsweise der Lehrer und vielgelesene Romancier Josef Friedrich Perkonig. „Deutschland, du unsere Wiege“, singt er im Bekenntnisbuch österreichischer Dichter, „Deutschland, du unser Sarg, / Vater, mit dem ich siege, / Mutter, die mich verbarg / (…) Edlerem Dasein geboren, / ziehen wir Söhne ein. / Oh, wir waren verloren, / und nun werden wir Deutschland sein.“
Was auf die Anschlusseuphorie anderthalb Jahre später folgte, ist allgemein bekannt. Die Dichterinnen Ingeborg Bachmann und Elfriede Gerstl waren in dieser Zeit des Zweiten Weltkriegs Kinder, Bachmann zu seinem Beginn dreizehn, Gerstl sieben Jahre alt. Beiden war, wie sie in autobiographischen Texten berichten, Schweigen auferlegt. „Bei Tisch sitzen die Kinder still da“, heißt es in Ingeborg Bachmanns Erzählung Jugend in einer österreichischen Stadt, „kauen lang an einem Bissen, während es im Radio gewittert und die Stimme des Nachrichtensprechers wie ein Kugelblitz in der Küche herumfährt und verendet, wo der Kochdeckel sich erschrocken über den zerplatzten Kartoffeln hebt. Die Lichtleitung wird unterbrochen. Auf den Straßen ziehen Kolonnen von Marschierenden. Die Fahnen schlagen über den Köpfen zusammen. ‚…bis alles in Scherben fällt‘, so wird gesungen draußen. Das Zeitzeichen ertönt, und die Kinder gehen dazu über, sich mit geübten Fingern stumme Nachrichten zu geben.“ Sie haben nichts mitzureden, diese Kinder, man spricht nicht mit ihnen, denn man wünscht das Beste für sie. Nichtwissen soll ihnen Schutz sein, ihre Kindheit soll glücklich sein, so glücklich wie unter den gegebenen Umständen möglich. Aber es ist nicht durchzuhalten, der Krieg kommt näher, macht auch vor der Kärntner Provinz nicht halt, der Schutzwall bricht: „Die Zeit der Andeutungen ist zu Ende. Man spricht vor ihnen von Genickschüssen, vom Hängen, Liquidieren, Sprengen, und was sie nicht hören und sehen, riechen sie, wie sie die Toten von St. Ruprecht riechen, die man nicht ausgraben kann, weil das Kino darübergefallen ist, in das sie heimlich gegangen sind, um die ‚Romanze in Moll‘ zu sehen. Jugendliche waren nicht zugelassen, aber dann waren sie es doch, zu dem großen Sterben und Morden ein paar Tage später und alle Tage danach.“
Für Elfriede Gerstl, die Jüdin, war Schweigen existenzielle Notwendigkeit, auf zweierlei Weise. Sie hat, gemeinsam mit ihrer Mutter, die Kriegsjahre in Wien zugebracht. Erst spät, 1981, hat sie über diese Zeit geschrieben, in dem kurzen autobiographischen Text Das kleine Mädchen, das ich war, hat beschrieben, wie die beiden Frauen, durch Glück und eine List der Mutter, dem Abtransport ins Konzentrationslager entgingen und sich daraufhin „tot oder schon deportiert“ stellten, mehrmals die Verstecke wechselten und so die Naziherrschaft überlebten. „Wir gingen nicht mehr aus, hatten die damals übliche Verdunkelungsrolle aus dickem schwarzen Papier heruntergelassen, verhielten uns ruhig, flüsterten und bekamen im Tausch gegen versteckt gehaltene Schmuckstücke von einer eingeweihten Nachbarin Lebensmittel und Zeitungen. (…) Schlimm war, dass wir so leise sein mussten (man konnte fast nur auf dem Bett liegen) und dass es zum Lesen der wenigen Bücher gar so dämmrig war.“ Aber das eigene Schweigen allein, mag es auch noch so perfekt gewesen sein, hätte nicht ausgereicht, das Überleben zu sichern, es bedurfte dazu auch noch eines zweiten, des Schweigens der anderen, der Mitwisser, der Eingeweihten. In einem Text aus dem Jahr 2001 mit dem Titel Danksagung und Erinnerung nennt Elfriede Gerstl sie bei ihren Namen, diejenigen, die, wie es in dem Text heißt, „mutig und mitleidig genug waren, trotz aller Strafandrohungen der Nazibürokratie einer jüdischen Frau und ihrem Kind – meiner Mutter und mir – Trost und Hilfe angedeihen zu lassen.“ Auch dieses kleine, kaum eine Seite lange Stück Literatur lässt sich als Denkmal begreifen, als Denkmal für auch zu oft Vergessene, und auch an ihm sollte man nicht achtlos vorübergehen.
Der Weltkrieg ging schließlich zu Ende und ein anderes Schweigen nahm seinen Anfang, auch ein anderes Sprechen, dem Schweigen eingeschrieben war. Josef Friedrich Perkonig, nachdem ihm das Siegen mit dem Vater Deutschland versagt geblieben war, machte sich nun ans Verbergen. In seiner Rechtfertigungsschrift Meine Haltung stellt er sich als unpolitischer Schriftsteller dar, als Freund der slowenischsprachigen Volksgruppe, die unter der Naziherrschaft unerwünscht war und zu leiden hatte, was ihn bis zum Kriegsende allerdings nicht gekümmert haben dürfte. Perkonig war immer noch und schon wieder der bedeutendste Schriftsteller Kärntens, und einer seiner Schüler, der spätere Landeshauptmann und Kulturreferent Leopold Wagner, der, wie er selbst einmal öffentlich und eher voll Stolz als voll Scham erklärt hat, einst „ein hochgradiger Hitlerjunge“ gewesen war, war so sehr von ihm beeinflusst, dass er sich in einem Vortrag über das Phänomen der literarischen Kreativität im Lande Kärnten zu den Worten seines Lehrers bekannte, „der in seinem schönen Essay über das Leben an der Grenze sagt: Hier stehen, wenn man sich nicht kurzsichtig wider einen tieferen Sinn der Volksräume versündigt, die feinfühligen Feldwachen, hier lauschen die hellhörigen Horchposten, die, wenn sie recht am Platz sind, jeden unterirdischen Laut weitermelden, hier müssen gute, kluge Soldaten stehen, die nicht gleich schießen, wenn sich drüben etwas Ungewöhnliches regt.“ Dieser Vortrag fand nicht, wie man vielleicht denken könnte, kurz nach Kriegsende statt, sondern 1977, vier Jahre nach Ingeborg Bachmanns Tod, zu einem Zeitpunkt, als Kärntner Schriftsteller wie Peter Handke, Peter Turrini, Gert Jonke oder Werner Kofler längst schon auch jenseits der Grenzen Österreichs vielbeachtete Texte veröffentlicht hatten.
Aber zurück. In den ersten Jahren nach Kriegsende gab es einiges an Literatur, die Krieg und Kriegsverbrechen zum Thema hatten, von Franz Theodor Csokor, Milo Dor und anderen, gab auch die Lyrik von Paul Celan und Ingeborg Bachmann und vieles mehr. Es führte zu weit, alle Werke hier aufzuzählen und näher auf sie einzugehen*. Vom Schweigen soll ja hier die Rede sein, und bald schon war es wieder da und begann, einem schwarzen Loch vergleichbar, alle kritischen Stimmen aufzusaugen und zum Verschwinden zu bringen. Das öffentliche Interesse an der erwähnten Literatur versiegte, so wie in der österreichischen Gesellschaft das Interesse, Naziverbrecher anzuklagen und zu verurteilen, zurücktrat hinter das Interesse, sie wieder in das politische System einzugliedern, nicht nur als honorige Bürger, sondern auch als mit Macht ausgestattete Repräsentanten dieses Systems, und es war daher nicht allzu übertrieben, wenn der Lyriker Michael Guttenbrunner 1954 eines seiner Gedichte mit der ebenso wütenden wie verzweifelten Zeile beendete: „Ich allein singe heute vom Krieg.“
Die Atmosphäre jener Zeit beschreibt sehr anschaulich ein Text, der 1976 in Berlin erschienen ist, guggile: vom bravsein und vom schweinigeln des aus Villach stammenden Autors Werner Kofler, „die totale Autobiographe einer Jugend in Kärnten“, wie es im Klappentext heißt. Das Thema Weltkrieg und Nationalsozialismus wird darin zwar nur selten thematisiert, aber über dem gesamten, mit nicht nur literarischem, sondern auch mit soziologischem Interesse das Leben im Villach der fünfziger Jahren vor Augen führenden Text lastet eine Atmosphäre des Schweigens und Verschweigens, die verstärkt wird durch ein autoritäres, oft auch gewalttätiges Erziehungsmodell, eine Unterwerfung unter die Normen der katholischen Religion und eine höchst rigide Sexualmoral. „strafe muß sein. / wenn nein ist, ist nein. / wer denn die tür zumache, die frau wurm? / unser herrgott hat alles so wundervoll eingerichtet, und die menschen sind so… so – / ein kind hat zum grüßen. / – aber ein tier enttäuscht einen nie. / wer denn die tür zumache, die frau blaschke? / deine einzigen freunde sind deine eltern. / ein kind hat zum folgen aufs wort. / immer predigt man… / wer den groschen nicht ehrt, ist des schillings nicht wert. /– natur ist ja so etwas herrliches… / die eltern sind die stellvertreter gottes auf erden. / für wen man denn predige, für die luft? / ein kind hat nicht zurückzumreden. / ein solche impertinenz! / eine schmutzerei sondergleichen… / eine impertinenz sondergleichen!“
Literarisch waren diese Jahre beherrscht von jenen Autorinnen und Autoren, die bereits in der Dollfuß-Zeit Ruhm und Ansehen genossen hatten und dieses ungebrochen hinüber ins Dritte Reich und von dort wieder zurück ins nunmehr befreite Österreich gerettet hatten. Keine Adventszeit verging, daran kann ich selbst mich noch erinnern, in der nicht Karl Heinrich Waggerl, einst wie Perkonig ein Verehrer und Hymniker des Führers, im österreichischen Fernsehen heiter-besinnliche Weihnachtsgeschichten vortrug, und blickt man auf die Liste der Träger des Großen Österreichischen Staatspreises der fünfziger Jahre, so wird man feststellen, dass unter diesen mit den höchsten nationalen literarischen Ehren bedachten Autoren die Zahl derer, die gerade noch Hitler zugejubelt hatte, die Zahl jener übersteigt, die sich geweigert hatten, das zu tun.
Wie ein Solitär wirkt in dieser Zeit Hans Leberts 1960 erschienener Roman Die Wolfshaut, dessen Schauplatz ein Dorf ist, das einen sprechenden Namen trägt: Schweigen. In literarisch avancierter Sprache und in eine Krimihandlung verpackt, thematisiert Lebert die Morde an Zwangsarbeitern während des Krieges und deren Vertuschung danach. Wenig überraschend, war einem solchen Buch kein großer Erfolg beschieden, recht bald war es aus den Buchhandlungen wieder verschwunden. Eine Kurzrezension im deutschen Spiegel vom Februar 1961 zeigt, dass man auch im Nachbarland nicht besonders erfreut war über die Auseinandersetzung mit derlei Themen. Von einer“unglaubwürdigen wie rechtlich unmöglichen Konstruktion“ spricht der Rezensent und wirft geradezu höhnisch dem Autor vor, ercharakterisiere „seine Figuren vornehmlich durch die unterschiedliche Penetranz ihres Körpergeruchs“ und äußere „ohne Unterlass Zweifel am Vollzug der Gerechtigkeit.“
Immerhin ist Leberts Roman gedruckt worden. Der jüdische Autor Albert Drach, dem mit Glück die Flucht vor den Nazis gelungen war, musste mit der Veröffentlichung seines ebenso eindrucksvollen wie schonungslosen Protokolls dieser Flucht, Unsentimentale Reise, bis 1966 warten. Wirklich wahrgenommen wurde das Buch allerdings erst bei seiner Wiederveröffentlichung 1988. Drach war zu diesem Zeitpunkt 86 Jahre alt, und ich erinnere mich, dass er wenig später bei der Präsentation der Neuauflage eines anderen seiner Bücher in der Wiener Alten Schmiede seine kleine Ansprache nach dem Ende der Lesung mit einem Ratschlag an alle jungen Menschen im Publikum beschloss, die selbst schreiben und Schriftsteller werden wollen, nämlich mit den Worten: Haben Sie Geduld.
Geduld war tatsächlich erforderlich, bis endlich die Glocke des Schweigens, die über dem Land lag, Risse zu bekommen begann und, ungefähr mit Beginn der siebziger Jahre, immer mehr Texte auftauchten, die sich mit den Ereignissen der Kriegs- und Nachkriegsjahre auseinandersetzten. Viele Literaturzeitschriften wurden in dieser Zeit in ganz Österreich gegründet, es gab viel mitzuteilen und nur wenige Medien, in denen das möglich war, also schuf man sich – auf Selbstausbeutungsbasis, versteht sich – eigene. Auch ich habe damals, 1976, gemeinsam mit einem Freund, Wolfgang Kobal, eine Zeitschrift gegründet. Wir nannten sie Fettfleck – Kärntner Literaturhefte, und eines unserer Ziele war, in jedem Heft zumindest einen Text eines slowenisch schreibenden Kärntner Autors oder einer slowenisch schreibenden Kärntner Autorin in deutscher Übersetzung abzudrucken, was damals alles andere als eine Selbstverständlichkeit war und vielleicht der Grund dafür, dass unsere Zeitschrift in all den Jahren ihres Erscheinens vom Land Kärnten, dessen Kulturreferent, wie schon erwähnt, der Perkonig-Schüler Leopold Wagner war, niemals finanziell unterstützt wurde.
Die siebziger Jahre waren für die Literatur in Österreich eine gute Zeit, eine Zeit des Aufbruchs, Zeit der Anerkennung. Dennoch dauerte es bis in die Achtziger, bis zur Waldheim-Affäre, dass die Auseinandersetzung mit den Verbrechen österreichischer Nazis auch eine größere Öffentlichkeit erreichte, und noch länger, bis auch über jene, die an den Angehörigen der slowenischen Volksgruppe in Kärnten begangen worden waren, öffentlich gesprochen wurde. Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens hat dazu beigetragen, sein überraschend großer Erfolg zeigt aber auch, dass das Interesse an diesem Thema inzwischen vorhanden und wie stark es war.
Manches aber liegt immer noch im Dunklen. Über das Schicksal russischer und serbischer Kriegsgefangener ist bis heute wenig bekannt. Aber auch dieses Schweigen beginnt zu enden. Karin Peschka behandelt das Thema in ihrem jüngsten Roman „Dschomba“, der in Eferding spielt, Dionysia Unterwurzacher befasst sich seit einigen Jahren mit der Geschichte des Kriegsgefangenenlagers in Spittal an der Drau, über dem bis heute eine Hülle aus Schweigen liegt, die immer noch so intakt ist, dass ich, der ich in dieser Stadt aufgewachsen bin und mich nicht zu jenen zähle, die an ihrer Geschichte kein Interesse haben, zwar von seiner Existenz gewusst habe, aber sehr lange nicht, dass so viele Menschen in ihm zu Tode gekommen sind.
Es lässt sich schwer sagen, was für Auswirkungen dieses jahrzehntelange Schweigen und Verschweigen auf die Menschen meiner Generation hatte und noch immer hat. Werner Kofler, der, vielleicht ohne sich selbst dessen bewusst zu sein, 1976 die Atmosphäre des Villach der fünfziger Jahre mit höchster soziologischer Präzision beschrieben hat, hat 25 Jahre später das Theaterstück Tanzcafé Treblinka veröffentlicht, das man als ebenso kunstvolle wie grausame literarische Auseinandersetzung mit einem der Gründe für dieses Schweigen betrachten kann, so als wolle der Autor selbst in seinen späten Jahren seinen Leserinnen und Lesern nachreichen, was er damals nicht wissen konnte. In Form eines Monologs eines immer noch begeisterten alten Nazi berichtet der Text im ersten Teil in der Hauptsache von den Untaten eines der größten Massenmörder des Dritten Reichs, Odilo Globocnik, und dessen Adjutanten Ernst Lerch, eines Klagenfurters, der dort, schon bald nach Kriegsende und nach Verbüßung einer geringen Strafe, als angesehener und unbescholtener Bürger ein beliebtes Tanzcafé betrieb. Ein solcher Text war 2001 nichts mehr Ungewöhnliches, es gab zu Beginn des neuen Jahrtausends schon mehrere inhaltlich vergleichbare, die großartige, mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Elfriede Jelinek etwa hat in vielen ihrer Bücher und Theaterstücke ähnliche Themen behandelt. Es ist vor allem der zweite Teil von Tanzcafé Treblinka, der das Stück einzigartig macht, denn er weist in die Zukunft. Es handelt sich dabei ebenfalls um einen Monolog, diesmal eines jungen Mannes, der „wie ein Irrer“ auf der Bühne hin- und hergeht, gegen Stuhlbeine tritt und Schriftstücke vom Tisch fegt, dabei diverse Stichworte aus dem ersten Teil des Stücks aufnehmend, um sie auszulöschen – „Wannseekonferenz – alles nicht gehört. Endlösung – alles nicht gehört. Sonderkommando – alles nicht gehört. Sonderbehandlung – alles nicht gehört. Aktion Reinhard – alles nicht gehört. Gelöscht, alles gelöscht.“ – oder ihnen den Zeitgeist der Haider-Ära entgegenzusetzen: „Wannseekonferenz – Beachvolleyball! Endlösung – Beachvolleyball! Sonderkommando – Beachvolleyball! Sonderbehandlung – Beachvolleyball! Aktion Reinhard – Beachvolleyball!“
Das Bestürzendste an diesem zweiten Teil von Tanzcafé Treblinka aber ist etwas, was zur Zeit seiner Entstehung nicht vorauszusehen war, nämlich dass die von Kofler imaginierten Versuche, die Geschichte und die Geschichtsschreibung zu korrigieren oder partiell auszulöschen, heute nicht mehr allein von jenen unternommen werden, die an Verbrechen beteiligt waren oder mit der Ideologie, die sie verursacht haben, immer noch sympathisieren, sondern auch von jenen, die, in der Hoffnung, dadurch reale Diskriminierung zu verhindern, bemüht sind, alle der Diskriminierung verdächtigen Begriffe aus der Sprache und der Literatur zu tilgen, nicht nur aus der gegenwärtigen, sondern aus aller Literatur. Junge Lesende sollen nicht mit Textstellen konfrontiert werden, die sie verstören, ihrer psychischen Gesundheit abträglich sein könnten. Die Lektüre eines Texts wie Tanzcafé Treblinka im Deutsch- oder Geschichteunterricht würde dadurch unmöglich gemacht. Für zukünftige Generationen aber wäre das, denke ich, eher von Schaden als von Nutzen. Ein friedliches Zusammenleben entsteht nicht dadurch, dass man nicht mehr spricht über die Untaten, zu denen Menschen fähig sind. Im Gegenteil, wir sollten dankbar sein dafür, dass das jahrzehntelange Schweigen über sie endlich zu Ende geht, und wir sollten uns nicht scheuen, weiter über sie zu reden und sie darzustellen, in all ihre Entsetzlichkeit und samt ihren grausamen Folgen, um so vielleicht uns und die nach uns kommen davor zu bewahren, sie zu wiederholen oder noch zu übertreffen.
Freuen wir uns, meine Damen und Herren, über das Geschenk einer lebendigen, ständig sich verändernden Sprache. Gehen wir sorgsam mit ihr um. Wir haben sie, um uns miteinander zu verständigen, und nicht, um auf einander loszugehen. Deshalb sollten wir sie nützen, um jenen entgegenzutreten, die sie auf unverantwortliche Weise dazu gebrauchen, Menschen gegeneinander aufzuhetzen, aber auch dazu, uns zu wehren gegen den Furor des Verbietenwollens, wie er derzeit nicht nur, aber auch unter Pädagoginnen und Pädagogen um sich greift, damit wir nicht in Gefahr geraten, auf paradoxe Weise in eine neue Ära des Verstummens zu schlittern.