Werner Wintersteiner – Trauer und Erschrecken, Mahnung und Hoffnung – Rede zum Shoah Gedenktag 2022 am 27.1.2022 in Villach

Der 27. Januar ist der Gedenktag an die Shoah, der Tag der Befreiung des KZs Auschwitz durch die Rote Armee. Es ist ein unbequemer, ein schmerzlicher Gedenktag. Der 27. Jänner ist ein Tag der Trauer, der Trauer über das unendliche Leid der Gequälten und Ermordeten. Er ist aber auch ein Tag des Erschreckens, des Erschreckens über uns selbst, wozu Menschen, unsere eigenen Vorfahren, imstande sind; es ist zugleich ein Tag der Mahnung und einer feierlichen Versprechens, des Versprechens eines „Nie wieder!“ und als solcher ist er auch ein Tag der Hoffnung – der Hoffnung auf eine menschliche Zukunft, auf das Gelingen der Zivilisierung der Zivilisation.

DIE BEFREIUNG

Am Samstag, dem 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz durch die 322. Infanteriedivision der 60. Armee der I. Ukrainischen Front unter dem Kommando von Generaloberst Pawel Kurotschkin befreit. Das Bataillon des ukrainischen Majors Anatoli Schapiro erreichte um 9 Uhr morgens das Tor des Lagers Monowitz (Auschwitz III) und schließlich auch das Stammlager Auschwitz I. Es dauerte mehrere Stunden, bis Schapiros Pioniere das Vorgelände des Tors entmint hatten. Dann betrat der Major als Erster das Lager. Er erinnert sich:

„In der zweiten Tageshälfte betraten wir das Lagergelände durch das Tor mit der Überschrift aus Drahtgeflecht: „Arbeit Macht Frei“. Es war nicht möglich, die Baracken ohne Mundschutz zu betreten. Auf Holzpritschen stapelten sich die Leichen. Unter den Pritschen krochen bis auf die Knochen abgemagerte Menschen hervor, kaum noch lebendig, und schworen, keine Juden zu sein. Niemand hatte dort noch an eine Befreiung geglaubt.“ Und eine andere Erinnerung von ihm: „Skelette von Menschen kamen uns entgegen. Sie trugen gestreifte Anzüge, keine Schuhe. Es war eisig kalt. Sie konnten nicht sprechen, nicht einmal die Köpfe wenden.“ 

Gegen 14 Uhr am gleichen Tag erreichten die ersten Sowjetsoldaten auch das sechs Kilometer westlich gelegene Lager Birkenau (Auschwitz II). In diesen befreiten Lagern lebten noch etwa 7000 Menschen, darunter 200 Kinder. 600 Leichen lagen in den Gebäuden oder im Schnee. Die Soldaten fanden in den Magazinen Zehntausende Herrenanzüge, Damenmäntel, Kinderkleider, Schuhe – und 7,7 Tonnen versandfertig verpacktes Menschenhaar. Leider kam für viele der Befreiten die Hilfe zu spät. Sie starben bald darauf an den Folgen der Lagerhaft, an Unterernährung und Krankheit.

Dass nur mehr 7000 Menschen in den Lagern waren, lag daran, dass die SS beinahe 60 000 Insassen auf einen Todesmarsch nach Westen geschickt hatte. Etwa 15 000, rund ein Viertel, kamen dabei um. Zeitgleich vernichtete die SS belastende Dokumente und brannte Gebäude ab, um Spuren des Massenmords zu verwischen. So sollten die Krematorien aus Birkenau, die die Nazis bereits vorher demontiert hatten, im österreichischen KZ Mauthausen wieder aufgebaut werden.

WAS WAR AUSCHWITZ?

Über eine Million Menschen sind in Auschwitz ermordet worden. Die überwiegende Mehrzahl der Opfer waren Menschen, die die Nazis nach ihrer Rassenlehre als Juden qualifizierten; ebenso wie Polen, Sinti und Roma und rund 15 000 sowjetische Kriegsgefangene. – Über eine Million ermordeter Menschen, das ist eine ungeheuerliche Zahl, die wir uns gar nicht vorstellen können. Gedenken wir daher heute, stellvertretend für alle, besonders jener Menschen, die aus Villach Stadt oder Villach Land stammen oder hier gelebt haben und in Auschwitz ermordet wurden. Ich nenne sie: 

Amalia Fischbach, geborene Schwarz, Michaela Golser, Maria Gornik, geborene Schönfeld, Therese Held, Rosa Herzenberger, Dr. Walter Kern, Charlotte Klarfeld, Ernst Kopeinig, Olga Krems, Stefan Leimberger, Marie Luise Mayer, geb. Gottlieb, Alois Pirc, Heinrich Rosenthal, Adolf Seger, Friedrich Seger, Martin Seger, Paul Seger, Wilhelmine Siutz, Rosalia Sovdat, geborene Bajt, Hermann Tschinkowitsch, Josef Warum sen., Franz Wohlfahrt, Romana Wurzer.

Es muss festgehalten werden: Mit dem Krieg gegen die Sowjetunion begann im Sommer 1941 auch der Massenmord an der dort lebenden jüdischen Bevölkerung. Innerhalb weniger Monate töteten die Einsatzgruppen der SS mehrere zehntausend Juden – Männer, Frauen und Kinder. Ganze jüdische Gemeinden wurden ausgelöscht. Als die Nazis erkannten, dass sie es logistisch tatsächlich schaffen könnten, sämtliche Juden und Jüdinnen Europas umzubringen, suchten sie nach möglichst effizienten Tötungsmethoden. In Auschwitz wurden mit dem Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon B im September 1941 erstmals 600 sowjetische Kriegsgefangene umgebracht. Kurz darauf wurde in Auschwitz I und II jeweils eine Gaskammer errichtet. Und Anfang 1942 begann die systematische Vernichtung in Auschwitz mit der Ermordung der Juden und Jüdinnen aus Oberschlesien. 

Die meisten Gefangen wurden bereits unmittelbar nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet, lediglich diejenigen, die als arbeitsfähig galten, wurden als Zwangsarbeiter eingesetzt. Die SS machte aus diesen ebenfalls Totgeweihten ein einträgliches Geschäft. Sie kassierte Gelder für die Häftlinge, die als Arbeitskräfte in den Industriebetrieben schuften mussten, die sich deswegen rund um Auschwitz ansiedelten, etwas die IG Farben, die Friedrich Krupp AG und die Siemens-Schuckert-Werke. So wurde Auschwitz III (Buna) das erste von einem privaten Industrieunternehmen geplante und finanzierte Konzentrationslager. In Auschwitz wurden aber auch medizinischen Experimente mit Leichen und lebenden Häftlingen durchgeführt. Unter Führung des berüchtigten KZ-Arztes Josef Mengele experimentierten Ärzte mit Giftstoffen und brachten zahlreiche Opfer bei ihren Versuchen um. 

Auschwitz war das größte der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager. Hier wurde aus dem Völkermord ein planmäßiger, systematisierter, ein direkt industriell betriebener Völkermord. In Auschwitz wurde eine weitere Schwelle der Unmenschlichkeit überschritten. 

VON DER VERFOLGUNG BIS ZUR ERMORDUNG

Aber damit haben wir noch nicht die gesamte Monstrosität des Bösen erfasst, die die NS-Vernichtungsmaschinerie kennzeichnet. Die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“, das planmäßige Morden, war der schreckliche Höhepunkt einer jahre- und jahrzehntelangen Kampagne. Auschwitz war die Spitze des Eisbergs.  Es brauchte unzählige helfende Hände, planende Köpfe, flammende Appelle, böse Gerüchte, willige Handlanger, um das entsetzliche Werk des absolut Bösen zu vollbringen. 

Denn es bedarf großer Anstrengungen, solch  ein Vernichtungsprogramm von Menschen in millionenfacher Zahl zu erdenken, zu planen und auszuführen. Es muss alles funktionieren, und das auch noch unter den Bedingungen des Weltkriegs. Die Verfolgten müssen pauschaliert zusammengefasst werden – die Juden und Jüdinnen – ganz unabhängig davon, welche Muttersprache sie sprechen, welches individuelle Leben sie haben, teilweise sogar, welcher Religion sie angehören. Sie müssen in einem jahrelangen permanenten propagandistischen Dauerbeschuss als die Feinde des Volkes hingestellt werden (so wie es Hitler bereits in seinem Buch Mein Kampf beschrieben hatte). Keine Lüge darf zu billig sein, keine Beschuldigung zu abstrus, keine Behauptung zu frech. Egal ob reich oder bettelarm – sie, die Juden und Jüdinnen, werden als Schmarotzer am deutschen Volkskörper hingestellt – die Juden sind unser Unglück. Alle Probleme werden vereinfacht, alle vielfältigen Ursachen für Armut, Unglück, Schmach, Benachteiligung werden auf einen einzigen Faktor zurückgeführt – die Juden. Es wird ein absoluter Egoismus gepredigt, und die Notwendigkeit eines Endkampfes auf Leben oder Tod suggeriert – es gibt nur mehr sie oder wir. In so einem Endkampf ist jedes Mittel recht, da ist jede Grausamkeit erlaubt; in so einer apokalyptischen Auseinandersetzung wird brutale Gewalt zur Tugend, da ist jedes Mitleid Sünde. 

Aber das System ist noch viel umfassender: Lange bevor diese Menschen als Feinde des Volkes verfolgt, vertrieben, eingesperrt, gefoltert und ermordet werden, werden sie lächerlich gemacht, denunziert, beschimpft, drangsaliert, verunsichert, geschlagen, gedemütigt, beleidigt, angegriffen, ausgeplündert, ausgeschlossen – und das nicht heimlich, sondern ganz öffentlich, aggressiv und sozusagen mit „gutem Gewissen“; vor den Augen der gesamten Bevölkerung, mit dem Wissen der gesamten Bevölkerung, mit der Billigung und oft sogar der Beteiligung der gesamten Bevölkerung – nein, nicht aller. Es gibt welche, die stehen zähneknirschend und ohnmächtig dabei, es gibt wenige, die bieten heimlich Hilfe an. Es gibt einige, die gehen in den Widerstand. Nicht genug, um die Walze der Verleumdung, der Verfolgung und der Vernichtung aufzuhalten, die allmählich ins Rollen gerät. 

Die Verfolgung einer Gruppe von Menschen, die bislang selbstverständlicher Bestandteil des eigenen Volkes oder anderer Völker war, wird eingeübt, als normal propagiert, sie wird zur Gewohnheitssache … Menschen werden entmenschlicht, mit Tieren verglichen, mit Ungeziefer, um Ekel vor ihnen hervorzurufen … Menschen werden aus ihren Wohnungen gejagt, sie werden ihrer ganzen Habe beraubt; diejenigen, die ins Ausland vertrieben werden, können noch von Glück reden; die große Mehrheit wird gefangen genommen, ausgebeutet, schikaniert, willkürlich erschossen oder schließlich in den systematischen Tötungsmaschinen der KZs vernichtet. Und das alles wird als rechtmäßig hingestellt, nicht nur als kriegsnotwendig, sondern als Wohltat für das eigene Volk.

DIE QUÄLENDEN FRAGEN, DIE UNS BLEIBEN

Dieses Böse, das ebenso monströs war in seinen Dimensionen wie zugleich banal in seiner Ausführung, lässt uns bis heute mit einer Reihe von quälenden Fragen zurück: Wie war es möglich, so eine gigantische Vernichtungsoperation durchzuführen, ohne auf substantiellen Widerstand zu stoßen? Wie konnte die Masse der Bevölkerung im Deutschen Reich, unsere eigenen Vorfahren, eine derartige Pervertierung aller Werte, aller Grundlagen des Zusammenlebens, jeder Menschlichkeit zulassen und teilweise auch aktiv befürworten? Wie konnte so ein Zivilisationsbruch möglich gemacht werden? 

Das sind keine rein historischen Fragen: Es ist die Frage: Was ist in uns Menschen, dass wir keineswegs immun sind gegen die Verführung zum Massenmord? Auschwitz war nicht der letzte Genozid. Und wieso hat sich mit Auschwitz und der Shoah der Antisemitismus nicht ein für allemal vollkommen diskreditiert? Wieso gibt es gerade in Österreich nach wie vor Sympathien für das NS-Regime? Sind das wirklich lauter Einzelfälle, wie man uns glauben machen möchte? Die Zeitung Der Standard hat allein 68 solcher so genannter Einzelfälle für den Zeitraum von kaum eineinhalb Jahren (Ende 2017 bis Frühjahr 2019) dokumentiert – also durchschnittlich einen Fall pro Woche. 

Und noch etwas: Wieso wagen es heute Menschen, sich mit den Opfern des Nationalsozialismus zu vergleichen, bloß weil man ihnen das Tragen von Corona-Schutzmasken und Schutzimpfungen zumutet? Sind uns schon wieder alle Maßstäbe verloren gegangen? Und wie sieht es mit anderen Formen von Diskriminierung, von Rassismus und Sexismus oder von Islamophobie aus? Wieso können wir es ertragen, dass wir das Mittelmeer zu einer Todeszone für Geflüchtete gemacht haben, wie können wir es hinnehmen, dass sogar anerkannte Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern auf griechischen Inseln vegetieren müssen? Die Lehren aus Auschwitz zu ziehen, heißt doch, allen Anfängen zu wehren, und keinerlei Ideologie zu dulden, die einer Gruppe von Menschen die Herrschaft über andere zugesteht oder die die Gleichgültigkeit gegenüber den Mitmenschen zum Programm erhebt.

Aber damit ist noch nicht alles gesagt, was zu sagen ist. Ich möchte nochmals daran erinnern, dass Auschwitz von der Roten Armee befreit worden ist. Es war ein Verdienst der Widerstandskraft und der Leidensfähigkeit des russischen Volkes und der anderen Sowjetvölker, die nicht nur Auschwitz befreit haben, sondern auch wesentlich Anteil daran hatten, das Hitlerregime niederzuringen, und damit erst wieder ein freies Österreich zu ermöglichen. Das wird heute gerne übersehen, jetzt, wo sich wieder ein Kalter Krieg zwischen Ost und West zusammenbraut, wo Feindbilder erneut gepflegt werden und Schwarz-Weiß-Denken die Oberhand gewinnt. Die Lehre von Auschwitz heißt auch hier, den Anfängen zu wehren. Wir müssen jeder Aggression entgegentreten, einer russischen ebenso einer amerikanischen, wir dürfen keiner Propaganda trauen, von welcher Seite sie auch kommen mag, und wir müssen wieder an die Erfahrungen der Ost-West-Entspannung erinnern: zuhören und ernst nehmen der Bedürfnisse der Gegenseite, kollektive Sicherheit statt Wettrüsten und Drohgebärden, Neutralität statt Blockkonfrontation. Wir dürfen nicht in Resignation verfallen, wir müssen die Hoffnung hochhalten.

HOFFNUNG UND WIDERSTAND

Denn der 27. Jänner ist auch ein Tag der Hoffnung – er ist schließlich der Tag Befreiung von Auschwitz. Und es sei daran erinnert, dass es selbst in diesem KZ Widerstand gab. Ich nenne die Kampfgruppe Auschwitz, den Zusammenschluss von meist österreichischen und polnischen Häftlingen. Hermann Langbein, der so oft in Villach als Zeitzeuge gesprochen hat, war einer von ihnen; ich nenne den verzweifelten Aufstand des Sonderkommandos von Auschwitz-Birkenau. Insgesamt gab es ungefähr 700 Häftlinge, die die Flucht aus den Konzentrationslagern in Auschwitz wagten, wie vielen es tatsächlich gelang, darüber gibt es keine sicheren Angaben, vielleicht 150, vielleicht 300. Und es gab die teilweise erfolgreichen Bemühungen, in Kontakt mit der Außenwelt zu treten – auch dank des heroischen Einsatzes des „Engels von Auschwitz“, der österreichischen Krankenschwester Maria Stromberger. 

Auch die Tatsache, dass es seit 2005 diesen Gedenktag des 27. Jänners gibt, als Internationalen Tag der Vereinten Nationen, ist ein Zeichen der Hoffnung. Es ist die Erkenntnis: „Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen.“

In diesem Sinne bitte ich euch alle, die ihr euch heute hier versammelt habt: Lassen wir die Trauer für die Opfer auf uns wirken; ertragen wir unser eigenes Erschrecken vor der Monstrosität menschlicher Gewalt; nehmen wird die Mahnung, ernst uns unermüdlich für ein Nie Wieder einzusetzen. Und gehen wir mit der Hoffnung nach Hause, dass eine bessere Welt möglich ist, wenn wir wirklich entsprechend handeln.