Richard Seeger – Erinnerung an die NS-Machtübernahme 1938

Dr. Richard Seeger, Magistratsdirektor von Villach, wurde am 12. März 1938 von den Nazis seines Amtes enthoben. In seinen Tagebuchaufzeichnungen schildert er die Ereignisse der NS-Machtübernahme.

„[….] Am Freitag, dem 11. März, mittags, aber begannen in Kärnten Demonstrationen der Nationalsozialisten. Nachher erfuhr man erst die Ursache, dass nämlich zu dieser Tagesstunde eine Regierungskrise, zufolge ultimativer Forderungen vom Deutschen Reich herein, ihren Höhepunkt erreicht hatte. Als ich gegen 15 Uhr ins Büro ging, schien die ganz kleine Stadt Villach in Aufregung und auf den Beinen; alle den Ausdruck eines gewissen Hochgefühls auf den Mienen. […] 

Ich eilte zu meiner Frau rasch heim durch die sich immer mehr mit freudig erregten Menschen füllende Stadt. Allem Anschein nach war nun die Aufschiebung der Volksbefragung das Signal für eine allgemeine Erhebung. Im Radio hörten wir dann gegen acht Uhr die letzte Rede von Schuschnigg. Dieser war zurückgetreten und verabschiedete sich vom österreichischen Volk. Wir saßen betroffen beisammen. Es ließ uns aber keine Ruhe daheim. Wir gingen noch einmal in die Stadt. Dort war der Hauptplatz bereits dicht gedrängt von Menschen. Ein Fackelzug wurde vorbereitet. Junge Burschen und Mädeln mit strahlenden Gesichtern, in gleichem Dress, mit Hakenkreuzarmbinden angetan, standen in militärischer Formation da. Ich konnte meinen Augen kaum trauen: da sah ich, mit dem Parteiabzeichen geschmückt, Vertrauensleute der Vaterländischen Front, scheinbar kreuzbrave Schuschnigg-Anhänger, vor deren Schnüffelei ich mich jahrelang in Acht nehmen musste. Nicht einzelne, nein viele, viele. Es grenzte an Hexerei. Dem Ganzen aber setzte es die Krone auf, als plötzlich aus der Kaserne die Polizei mit der Hakenkreuzfahne dahermarschierte und das Horst-Wessel-Lied sang. Nicht nur die betont nationalen Akademiker standen triumphierend da, auch ruhige, soignierte und seriöse Leute, wie der Landesgerichtsrat entpuppten sich als Illegale. […] Es schien, dass mit wenigen Ausnahmen die ganze Intelligenz, die Beamtenschaft, die Exekutive, zahlreiche maßgebliche Persönlichkeiten der Wirtschaft und ein nicht zu unterschätzender Teil der Arbeiterschaft auf der Hitlerseite standen […] 

Am folgenden Tag hatten sich morgens in meinem Arbeitszimmer schon landsknechtartige SA-Leute breitgemacht und meinen Schreibtisch durchstöbert. Man machte mir begreiflich, dass ich im Rathaus nichts mehr zu suchen habe und dass es bei einer Revolution eben auch um Köpfe gehe. […] 

Am 12. und 13. März erschien Hitler in Linz. Unvorstellbarer Jubel war im Radio zu hören. An diesem Tag wurde auch der Anschluss vollzogen. Achtundvierzig Stunden später meldete Hitler dies vom Wiener Heldenplatz aus theatralisch „vor der Geschichte“. Der Jubel soll auch hiebei keine Grenzen gekannt haben. In Villach umarmten sich fremde Leute, und viele Frauen heulten immerzu vor Rührung. Es ist nicht wahr, wenn man sagt: „Österreich wurde ein Opfer brutalen Überfalls.“ Ich muss im Gegenteil sagen, dass der Anschlusswille überwältigend war. […] 

Die Bischöfe erließen einen Hirtenbrief und wünschten, dass sich alle Gläubigen bewusst seien, was sie dem deutschen Volk schuldeten. Auch der alte sozialdemokratische Kanzler Dr. Renner äußerte sich zur veränderten Lage positiv.“

Quelle:
zitiert nach Willhelm Wadl und Alfred Ogris: Das Jahr 1938 in Kärnten und seine Vorgeschichte, Klagenfurt 1997, S. 344 f.