Herwig Burian – Gedenken Mai 2005

Auch der Erziehungsstil gestaltet die Zukunft der Gesellschaft!

… Gleichzeitig mit dem Erinnern steht bei solchem Gedenken die Frage nach dem „Warum“ im Raum, die Frage, wie das Entsetzliche möglich wurde, und die Frage, wie eine Wiederholung des Geschehenen zu vermeiden ist.

Bei der Frage nach den Ursachen komme ich als Lehrer, als Erzieher, auf den Faktor der Erziehung zu sprechen, und der Faktor der Erziehung wird bei der Ursachenforschung meiner Meinung nach ungerechtfertigterweise zu stark in den Hintergrund gedrängt hinter andere Faktoren, wie etwa ökonomische oder machtpolitische.

Der deutsche Dichter Alfred Andersch hat kurz vor seinem Tod im Jahre 1980 ein Büchlein herausgebracht, das den Titel trägt: „Der Vater eines Mörders“.  Es ist ein Buch über den Vater Heinrich Himmlers, des obersten SS-lers und Chefs der deutschen Polizei. Der Vater des Massenmörders Heinrich Himmler war Direktor eines humanistischen Gymnasiums in München.

Und der Schriftsteller Alfred Andersch, selbst ein Schüler des Gerhard Himmler, des Vaters von Heinrich Himmler, stellt sich berechtigt die Frage: „Heinrich Himmler ist nicht im Lumpenproletariat aufgewachsen, sondern in einer Familie aus altem, humanistisch fein gebildetem Bürgertum. Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ Es ist die Frage, wie Buchenwald, das KZ in der Nähe Weimars und Weimar, die Heimat der deutschen Klassik, zusammenpassen.

Doch die Frage des Alfred Andersch ist eigentlich eine rhetorische, denn er beantwortet sie mit seinem Buch selbst: das Verhalten des Direktors Gerhard Himmler, der selbst die humanistische Sprache Griechisch an seinem humanistischen Gymnasium lehrte, hatte mit Humanismus in keiner wie immer gearteten Weise mehr irgendetwas zu tun. Was Oberstudiendirektor Himmler an seiner Schule praktizierte, war diktatorischer Führungsstil reinsten Wassers und psychischer Terror auf kleinem Raum. So sei nur als kleines Beispiel aus dem Buch zitiert, dass Direktor Himmler einen Schüler seiner Anstalt von einer Minute auf die andere von der Schule hinausschmiss, weil er es gewagt hatte, den Direktor als „Herr Himmler“ anzusprechen und nicht als „Oberstudiendirektor Himmler“.

Im Gegensatz dazu hatte das Erziehen bei den Dichtern und Denkern der deutschen Aufklärung etwas mit der freien Selbstentfaltung des Individuums zu tun und die Rolle des Erziehers war mit der Rolle eines Gärtners vergleichbar, der zwar gießen und düngen, in Wirklichkeit aber nur zusehen kann, wie seine Pflanzen sich entwickeln. 

Bei vielen Pädagogen, Schulmeistern und Erziehungstheoretikern des späteren 19. Jahrhunderts pervertierten nach dem Scheitern der Revolution von 1848 die aufklärerischen Ideale zu einer Praxis, die im Wesentlichen mit dem Rohrstock arbeitete und den Drill und unbedingten Gehorsam zum obersten pädagogischen Leitbild erkor. Die tausendfachen Verfechter von militärischen Kommandos und Gewalt an den Schulen beriefen sich zwar weiterhin auf Schiller, Goethe oder Pestalozzi, sie hatten aber mit einem Humanismus nichts mehr auf dem Hut, die Zitate von Schiller und Goethe verkamen zur leeren Worthülse, die Berufung auf die Klassiker diente allein der Verschleierung der gewalttätigen Erziehungs-Praxis.

So stellte etwa der königliche Regierungs- und preußische Schulrat Kahle seine 1873 erschienene Schrift über die „Grundzüge der Volksschulerziehung“ unter das Motto „Lerne vom Militär“ und redete dem Kommando-Ton und dem Exerzierstil in Schulen das Wort. Und der Weimarer Erziehungstheoretiker Karl Arnhold fand den Spruch „Eisen erzieht“ als Leitbild für die Lehrlingsausbildung für passend. Die deutsche Jugend sollte „hart, zäh und wahr“ werden wie der Werkstoff Eisen. Die häufige Gewalt in der Erziehung wurde vielfach begründet mit der notwendigen Liebe und die Fürsorge um die Zukunft des Gezüchtigten. Die Botschaft lautete: „Lieben ist mit Schmerz-Zufügen“ verbunden – laut Alice Miller eine gute Basis für das Entstehen von Perversionen.

Und da sind wir bei einem Thema, das dem Begründer der psychogenen Ge­schichtstheorie, dem amerikanischen Wissenschaftler Lloyd de Mause, sehr am Herzen liegt: die Gewalt in der Kindererziehung als Ursache für spätere politische Exzesse.  De Mause weist in seinem neuen Buch „Das emotionale Leben der Nationen“, dessen deutsche Übersetzung er persönlich Ende September in Klagenfurt vorstellte, darauf hin, dass im Deutsch­land vor und zwischen den Weltkriegen das Gewaltpotential bei der Erziehung größer war als bei anderen Nationen. Geprügelt und misshandelt wurde in deutschen Kasernen, auf den Polizeistationen, in den Gesindestuben und vor allem in den deutschen Schulen. Verkürzt könnte man sagen, die Jugend des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts wurde reif geprügelt für die politischen Untaten des 20. Jahrhunderts. Wenn jemand in seiner Jugendzeit – wie etwa Hitler – brutal geschlagen wurde, so führt das zu psychischen Deformationen, und wenn so jemand hoch hinaufkommt, hat das Konsequenzen für ganze Gesellschaften. Lloyd de Mause möchte zeigen, dass der Holocaust sehr stark durch die Kindheit der Verantwortlichen bestimmt ist.

Doch wie steht es mit dem Motto „nie wieder“ – wie sieht es da aus mit den Chancen?

Auch bei der Beantwortung dieser Frage muss man deutlich den Faktor Erziehung im Auge behalten. Bei der Erziehung hat sich Grundlegendes zum Positiven geändert. Schon in den 60er Jahren wurde das Züchtigungsrecht der Lehrer beseitigt. Seit 1989 ist in Österreich für die Erziehung in den privaten Haushalten auch das Argument, „eine gesunde Watschen hat noch niemandem geschadet“, vom Tisch. Seit damals ist laut Allgemeinem Bürgerlichen Gesetzbuch in Österreich die „Anwendung von Gewalt und die Zufügung von körperlichem oder seelischem Leid in der Erziehung“ gesetzlich verboten. Im Jahre 2000 wurde ein ähnlicher Paragraph ins deutsche Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen. Somit ist in Österreich und Deutschland wie in einigen anderen Ländern die gewaltfreie Erziehung gesetzlich vorgesehen. Das stimmt hoffnungsfroh. Es wird sogar offiziell die Idee der Gewaltfreiheit an den Schulen gefördert und unterstützt, etwa durch die massenhafte Verbreitung der „UN-Kinderrechte“ unter den Schülerinnen und Schülern oder durch Mediationsprojekte und das Einüben friedlicher Konfliktlösungsstrategien.

Andererseits sind die Kinder und Jugendlichen natürlich massenweise mit Gewaltphantasien, vor allem über die Medien konfrontiert, etwa mit detaillierten Berichten über den Golf-, den Kosovo- oder den Irakkrieg. Und diese Bilder sagen ihnen: es ist sehr erfolgreich, mit Gewalt die Probleme zu lösen.

Ob es eine Wiederholung der entsetzlichen Exzesse des 20. Jahrhunderts in ähnlicher Form geben wird oder nicht hängt zu einem gewichtigen Teil also auch davon ab, wer die Köpfe der jungen Generation gewinnt: die Liebhaber einfacher gewalttätiger Lösungen oder diejenigen Kräfte, die auf langfristige Bewusstseinsbildung in Richtung Gewaltreduktion wirken.

In letzterem Sinne ist die heutige Gedenkveranstaltung für die Opfer der nationalsozialistischen Gewalt von Bedeutung und leistet hier ihren Beitrag.