Helga Glantschnig – Gedenken Mai 2019
Rede am „Denkmal der Namen“ (Villach, 10. Mai 2019)
Als in Radenthein Aufgewachsene beginne ich mit einer Schilderung aus der Radentheiner „Schulchronik“ der Jahre 1936-1940. Über den Anschluss „Deutsch-Österreichs“ an das „Deutsche Reich“ schrieb der Lehrer Müller 1938: „Am Sonntag, dem 13. März ist halb Radenthein in Villach. Hier wurde ein Fackelzug veranstaltet. Vor uns leuchten die Karawanken, sie sind nun die Grenze des Großdeutschen Reichs. … Eine lange Wagenkolonne steht schon beisammen. Und immer noch schließen sich neue Wagen an. Und jeder wird jubelnd begrüßt. Die Stimmen sind schon längst heißer gesungen u. heißer geschrien, aber wo die Stimme versagt, helfen die Hände, das Auge, das trunken glänzt vor Ergriffenheit und Begeisterung.“
„Den Namen >Hitler< hatte ich das erste Mal im Haus des Bruders meiner Mutter, in dem sie aufgewachsen war, gehört. Es muss in meiner Volksschulzeit (1964-1968) gewesen sein, dass ich diesen Namen wahrnahm. Bei den Besuchen in Ebenthal (im Südosten von Klagenfurt) kam der Onkel immer wieder auf ihn zu sprechen. In seiner Ereiferung, in seiner Neigung zu Jähzorn fiel regelmäßig der Satz: >Das hätt´ es unter Hitler nicht gegeben.< Der Onkel, der ältere Bruder meiner Mutter, der den Hof seiner Eltern übernommen hatte, schimpfte oft und gern, über alles Mögliche. Regelmäßig erzürnte er sich über den slowenisch predigenden Pfarrer der Gemeinde.“
„Man schnappt als Kind etwas auf, man erahnt etwas, ohne Kenntnis und ohne Zusammenhang. Man erfasst etwas Ungewisses. Am Hof des Onkels lebte neben seiner Frau und den Kindern, die ihren Vater >Tate< nannten, eine Magd, die Mojca hieß. Sie war eine ehemalige Zwangsarbeiterin aus dem Osten, die nach dem Krieg nicht in ihre Heimat zurückkehrte, da sie, hieß es, nicht mehr wusste, woher sie genau stamme.“
„Im Haus meiner Eltern kam erst später gelegentlich die Rede auf die Nazi-Zeit. Da mein Vater aufgrund seines Geburtsjahres (1930) nicht als Soldat an der Front war, war der Onkel der erste, den ich vom Kriegseinsatz reden hörte. Es waren keine Erzählungen, vielmehr Zwischenbemerkungen, an die ich mich nicht genau erinnern kann. Ebenso vage blieb das Wort >Jud(e)<, das in diesem Kontext fiel – ein Reizwort. Ähnlich unzugänglich wie das Wort >Krieg<. Krieg war für meinen Kinderverstand etwas diffus Bedrohliches. … Dass öfters ein Buch mit dem Titel >Mein Kampf< erwähnt wurde, prägte sich mir hingegen ein. Ein Buch ist etwas Konkretes, worunter man sich als Kind etwas vorstellen kann. Der Verfasser dieses Buches blieb mir jedoch indifferent. Es war ein Buch, das man verstecken musste, soviel wurde mir klar, denn der Onkel erwähnte mit wiederholter Trotzhaltung, dass er es aufheben würde, dass dieses ominöse Buch auf dem Dachboden sicher wäre, als gehörte es zum Inventar des Hofs.“
„Wenn ich meine Mutter gelegentlich vom Krieg erzählen hörte, gewann Angst die Oberhand. Die Angst – größer als der Kopf. Sie erwähnte Luftangriffe, die ebenso jäh endeten wie sie begonnen hatten. Sie sprach von Bomben, die ihr Ziel trafen oder nicht… Meine Mutter redete eindringlich davon, ohne etwas zu erklären. Rudimentär begriff ich, was der Krieg tat, auch wenn mich die Vorstellung als Kind überforderte.“
Als ich etwa 20 Jahre alt war und in den Sommerferien in einem Münchner Restaurant jobbte, nahm ich die Gelegenheit wahr, die nahe gelegene KZ-Gedenkstätte Dachau zu besuchen. Als Studentin hatte ich im Gegensatz zu meiner vollkommen als unreflektiert zu bezeichnenden Gymnasiastinnenzeit immerhin schon Umgang mit sogenannten gesellschaftskritischen Texten, die mich herausforderten und mein Interesse weckten. Einschlägige Literatur zur NS-Zeit las ich allerdings nicht. Einen nachhaltigeren Eindruck als der Besuch in Dachau bedeutete für mich die 1985 fertiggestellte neunstündige Dokumentation „Shoah“ von Claude Lanzmann (2018 verstorben).
Mitte der neunziger Jahre lernte ich in Wien Fred Plisner (1919-2011) kennen. Er war der erste Jude, mit dem ich persönlich in Kontakt kam. Plisner gelang es als 18jähriger, indem er sich im August 1938 quer durch Österreich bis in die Schweiz durchschlug, vor den Nazis zu fliehen. Sein Weg führte ihn bis nach Israel, schließlich ließ er sich in England nieder, wo er Jahrzehnte später im (1995 erschienen) Buch „Die Lust der Schwerkraft. Roman eines Lebens“ seine Flucht-Etappen schilderte.
Mir fiel erst relativ spät auf, dass die Schwester meines Vaters, die durch einen Unfall seit dem Kleinkindalter geistig und körperlich schwer behindert war, dank Zufall, Nachlässigkeit oder stillschweigender Billigung kein Opfer der Euthanasie wurde. Sie war 1939, als Hitler in einer geheimen Anordnung den „Gnadentoderlass“ erließ, die Tötung der „geistig und körperlich Minderwerten“, 18 Jahre alt.
Nach dem Tod meiner Mutter im Jahr 2009 begann ich, mich mit ihren Aufzeichnungen aus der Kriegszeit auseinanderzusetzen. Sie hatte im Jahr 1943, als sie sechzehn Jahre alt und glühende Verehrerin von Hitler war, begonnen, Tagebuch zu führen und beendete die Eintragungen am 24. Dezember 1945. Diese drei Hefte sind heuer unter dem Titel „Das Kriegstagebuch meiner Mutter“ mit einer Einleitung erschienen. Mir wurde die Frage gestellt, warum ich als Schriftstellerin daraus nicht einen Roman, einen fiktiven Text gemacht habe. Erwünscht ist ja die literarisierende Ausschmückung von historischen Ereignissen, kombiniert mit amourösen Geschichten, kurzum: eine Story mit Pathos und Kitsch.
Für mich war von vornherein klar, dass ich nicht zu literarischen Mitteln greifen wollte. Die historischen Fakten, die in einem Roman auftauchen, werden durch den fiktionalen Kontext kontaminiert, trivialisiert. Es gilt vielmehr, die Tatsächlichkeit des Geschehenen im Auge zu behalten. Im Gegensatz zu einem Roman, der beliebig konstruierbar und in dem alles erlaubt ist, es handelt sich ja um Erfindung, Erdichtung, ist Geschichte, die auch einer Konstruktion unterliegt, an empirische Fakten gebunden. Vergangenheitsbeschreibungen sind immer als eine Konstruktion von Vergangenheit zu lesen.
Ob eine „Kunstform“ geeignet ist, unliebsame Tatsachen zum Ausdruck zu bringen, hatte die jüdische Philosophin Hannah Arendt (1905-1975), die 1933 aus Deutschland nach Frankreich emigriert war und 1941 in die USA ausreisen konnte, bezweifelt. Sie bezog sich auf das Schauspiel „Der Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth, das, 1963 publiziert und uraufgeführt, Arendt als „Reportage-Stück“ bezeichnete. Hochhuth befragte die moralische Verantwortung von Papst Pius XII., der genau informiert war und sozusagen schweigend zusah. Der Vatikan hatte weder Einspruch gegen die Rassenideologie noch etwas gegen die Deportation und Ermordung der, auch getauften, Juden unternommen. „Der Stellvertreter“ war für Arendt das am meisten auf Tatsachen beruhende Werk dieser Generation, aber nicht ein Stück Literatur.
Die Undarstellbarkeit von Auschwitz, von Konzentrationslagern, ist ein Grundsatz, der von Überlebenden häufig formuliert wurde. Sie stellen den singulären Charakter des Holocaust, der Shaoh, wie man die Politik der Judenvernichtung, der Endlösung nennt, ins Zentrum. Als Verbrechen gegen die Menschheit, welches einen Bruch in der Geschichte der Zivilisation markiert. In kurzer Zeit wurde, wie Arendt zusammenfasste, „das moralische Gefüge der westlichen Welt zerstört“.
Was, so die 1931 in Wien geborene Ruth Klüger, Auschwitz-Überlebende, Literaturwissenschaftlerin und Autorin bei ihr „noch tiefer sitzt als die Empörung über das große Verbrechen“, ist „das Bewusstsein der Absurdität des Ganzen, das Widersinnige daran, die völlige Sinnlosigkeit der Morde und Verschleppungen. … Man konnte nichts vorhersagen, weil eben alles möglich war, weil keine Idee so aberwitzig ist, dass sie in hochzivilisierten Gesellschaften nicht ausgeführt werden kann.“
Sie warnt davor, nicht das Furchtbare ins Sentimentale zu verfälschen. In ihrem Buch “weiter leben – Eine Jugend “ (1992) heißt es an einer Stelle in Bezug auf die KZ-Gedenkstätten:
„Es liegt dieser Museumskultur ein tiefer Aberglaube zugrunde, nämlich dass die Gespenster gerade dort zu fassen seien, wo sie als Lebende aufhörten zu sein. Oder vielmehr kein tiefer, sondern eher ein seichter Aberglaube, wie ihn auch die Grusel- und Gespensterhäuser in aller Welt vermitteln. Ein Besucher, der hier steht und ergriffen ist, und wäre er auch nur ergriffen von einem solchen Gruseln, wird sich dennoch als ein besserer Mensch vorkommen. Wer fragt nach der Qualität der Empfindungen, wo man stolz ist, überhaupt zu empfinden. Ich meine, verleiten solche Überbleibsel alter Schrecken nicht zur Sentimentalität, das heißt, führen sie nicht weg von dem Gegenstand, auf den sie die Aufmerksamkeit nur scheinbar gelenkt haben, und hin zur Selbstbespiegelung der Gefühle?“
„Mir ist Auschwitz kein Wallfahrtsort, keine Pilgerstätte. …. An den Ort, den ich gesehen, gerochen, gefürchtet habe und den es jetzt nur noch als Museum gibt, gehör ich nicht hin, hab dort niemals hingehört. Ein Ort für Geländebewahrer.“
Der das Konzentrationslager Buchenwald überlebende ungarische Schriftsteller und Nobelpreisträger Imre Kertesz (1929-2016) konstatierte 1998: Dafür, „dass der Holocaust mit der Zeit tatsächlich Teil des europäischen – zumindest des westeuropäischen – Bewusstseins wurde, war der Preis zu entrichten, den Öffentlichkeit zwangsläufig fordert. Es kam sogleich zu einer Stilisierung des Holocaust, die heute schon fast unerträgliche Ausmaße annimmt.“ – „Ein Holocaust-Konformismus entwickelte sich, ein Holocaust-Sentimentalismus, ein Holocaust-Kanon, ein Holocaust-Tabusystem und die dazugehörige zeremonielle Sprachwelt“. Es ist in der Tat nicht einfach, ohne klischeehafte Formeln darüber zu sprechen.
Es sind, wie Kertez betonte, ausschließlich die Überlebenden, die eine „Habe“ über das „Existieren“ in einem Konzentrationslager „besitzen“. Sie sind jene, die die Erinnerung an Auschwitz erzählen konnten und noch können. Die Überlebenden und Zeitzeugen werden immer weniger. Man hat keine Ahnung von der authentischen Realität eines KZ. „Man kann diese nicht >nachahmen<, damit sie authentisch erscheine.“
Die literarische Aneignung und Verwertung des Leids der Verfolgten und Ermordeten durch nicht-jüdische Autoren halten Klüger und Kertesz schlichtweg für Kitsch.
Arendt hatte 1961 den Eichmann-Prozess in Jerusalem (für das Magazin „New Yorker“) verfolgt. Sie wurde für ihre Formulierung von der „Banalität des Bösen“ bekannt und (nicht nur von jüdischer Seite) bekämpft. Eichmann, der für die Organisation der Transporte von drei Millionen der insgesamt 6 Millionen ermordeten Juden zuständig war, stellte sich Arendt im Prozessverlauf nicht als Ungeheuer, Fanatiker oder Sadist dar, sondern als gedankenloser Funktionär. Er präsentierte sich als jemand, der nur seine Pflicht erledigt hätte. Die persönliche Verantwortung wurde an das NS-Regime abgetreten. Psychiater beschrieben Eichmann am Ende des Prozesses als vorbildlichen Familienvater und normalen Menschen. „Gedankenlosigkeit, so Arendt, „Nicht-denken, sich zum Beispiel nicht vorstellen, wie mir zumute sein würde, wenn mir geschähe, was ich einem anderen tue – das ist das >Böse<.“ Das Versagen dieses Vermögens kennzeichnet Täter wie Eichmann. Eichmann, so Arendt, steckt nicht in jedem von uns, er ist aber auch nicht in niemandem von uns.
Das Selbstdenken, die eigenständige Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und ihrer Geschichte halte ich für unerlässlich. Etwas, das nicht vom Himmel fällt. Es setzt voraus, dass man von privaten Dingen absehen kann. Es reicht nicht aus, etwas vorgesetzt zu bekommen, es bedarf, so denke ich, auch des Wissens um die Geschehnisse. Ein Wissen, das nicht auf oberflächliche Weise zu erwerben ist, sondern auf forschendem Lernen, Lesen basiert. In den Nachrichten hörte man kürzlich, dass rund 40% der unter 30-Jährigen nicht wissen, was genau in den Konzentrationslagern passierte. Gerade die relativ ahnungslose Jugend ist die am leichtesten verführbare Gesellschaftsgruppe. Sie war es, die das NS-Regime komplett für sich zu gebrauchen und zu missbrauchen trachtete.
Geschichte ist das, was prinzipiell erinnert werden kann. Arendt appellierte an das wissende Erinnern. Man muss die Vergangenheit kennen und annehmen. Sie war aber der Ansicht, dass die Vergangenheit nicht bewältigt werden kann. „Das Höchste, was man erreichen kann, ist zu wissen und auszuhalten, dass es so und nicht anders gewesen ist, und dann zu sehen und abzuwarten, was sich daraus ergibt.“
In der von Hans Haider erstellten Schrift „Nationalsozialismus in Villach“ (2005 in zweiter Auflage erweitert) wird unter den 1409 NS-Opfern in ganz Kärnten eine „Maria Glantschnig“ angeführt. So hieß auch meine Mutter, nachdem sie geheiratet hatte. Außer dem Namen gibt es keine Information. Man weiß nicht, ob es sich um ein Euthanasieopfer oder eine Widerstandskämpferin handelt, eine Jüdin oder eine Angehörige der Sinti. Es wäre anmaßend, über das Mädchen oder die Frau, die der bestialischen Vernichtungsmaschinerie des NS-Regimes zum Opfer fiel, Spekulationen anzustellen, Vermutungen, etwa in einem Gedicht. Man muss wissen, welche Form in Frage kommen kann, man muss sich der Unzulänglichkeit seiner Mittel bewusst sein. Es können nur die Fakten sprechen.