Hans Karl Peterlini – Gedenken Mai 2017
Die Gegenwart des Holocaust – Ansprache zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus vor dem Denkmal der Namen in Villach am 10. Mai 2017
Wenn wir vor einem Denkmal stehen, wie diesem hier, dem Denkmal der Namen, fällt das Sprechen schwer, ist jedes Wort dem Risiko der Anmaßung ausgesetzt. Was hier so schlicht als Aneinanderreihung von Namen auf durchsichtigem Hintergrund – wohl nicht zufällig – wiedergegeben wird, ist das einzige, was von massenhaft Ermordeten geblieben ist – und schon dieses „massenhaft“ taucht das Leid, die Erniedrigung, das Unaussprechliche, was jeder und jedem Einzelnen angetan wurde, in eine anonyme Vielzahl.
Aber auch wenn ich von „grausam“ Ermordeten spräche, von kaltblütig und zynisch Gequälten und Getöteten, bringen die Worte nur Aspekte dieses Leides, dieses Unrechts zum Ausdruck, vermindern die Adjektive das, was wirklich geschehen ist, weil jeder Versuch, den Holocaust zu beschreiben, begrifflich zu fassen, ihn zu begreifen, das Entsetzliche kleiner macht. Sprache reicht dafür nicht. So sind die Namen zugleich das einzige, was sich aussprechen lässt, was den Opfern gerecht wird, so müsste eine Rede hier, vor diesem Denkmal, sich auf das Verlesen der Namen beschränken und auf stummes Gedenken, um ihnen ihre Würde, ihre Verletztheit, ihr Dasein nicht noch einmal zu nehmen, indem es durch das Ringen nach passenden Worten oder gar Superlativen, die für die Beschreibung nötig wären, banalisiert wird, jener Banalität des Bösen, wie Hannah Arendt dem Verbrechen und den Verbrechern des Holocaust das Außerordentliche nahm – das Böse war und ist banal und dadurch so leicht zu übersehen, so schwer zu begreifen. Oder so wie es Konstantin Wecker in einer leisen Ode an die jugendliche Widerstandsbewegung „Die Weiße Rose“ schreibt, gewidmet Sophie und Hans Scholl, „jetzt haben sie euch zur Legende gemacht und in Unwirklichkeiten gesponnen, denn dann ist einem – um den Vergleich gebracht – das schlechte Gewissen genommen“.
Nicht von den Opfern darf ich deshalb reden, ihnen gilt das stumme Gedenken im stillen Verlesen der Namen, nicht von damals möchte ich reden, sondern von dem, was am Holocaust nicht historisch und nicht einmalig ist, sondern auch gegenwärtig und alltäglich drohend, darüber, was uns als Verantwortung mitgegeben ist, unabhängig davon, ob wir – wie die allerwenigsten mittlerweile – damals dabei waren oder nicht. Es gibt auch eine Verantwortung jenseits persönlicher Schuld, die uns allen auferlegt ist als Auftrag, wach zu sein in der Gegenwart, sensibel zu werden für Unrecht, das wir nicht nur passiv übersehen, sondern an dem wir teilhaben, indem wir es nicht sehen wollen, weil wir diesem Unrecht vielleicht einen Teil unseres vermeintlichen Glücks, unseres vermeintlichen Wohlstandes verdanken, unsere Ruhe und unser Ruh-haben, unser zufriedenes Leben, das wir in Frage stellen müssten, würden wir hinschauen, welches Unrecht, welche Not, welche Verzweiflung gerade eben dieses unser Wohlbefinden nährt, welche Gewalt es mit hervorbringt, vor der wir uns mit Aufrüstung und Grenzverstärkung nicht schützen werden können.
Das feierliche Versprechen nach 1945 – nie wieder Krieg, nie wieder so ein Verbrechen – wurde gebrochen, noch während es ausgesprochen wurde. Das vermeintliche Ende des Zweiten Weltkrieges hat nur hier stattgefunden, es ging unmittelbar einher mit Stellvertreterkriegen anderswo und mit dem Beginn des Kalten Krieges – schon 1946 sprach Winston Churchill offen davon, dass nun ein Kalter Krieg beginne, Georges Orwells 1984 wurde 1948 geschrieben und ist aktueller denn je. Die systematische Vernichtung von Menschen, die zuvor zu Feinden erklärt wurden, die Herstellung von immer effizienteren und effektiveren Waffen durch das Handwerk des Todes, der nicht nur ein Meister aus Deutschland, sondern auch aus Österreich, Italien, Frankreich, England – aus allen sogenannten zivilisierten und demokratischen Staaten ist, die Akquise neuer Kundschaft auf den Leichenfeldern der Welt, die Nichtbeachtung von Ausbeutung der armen Länder für jene, die prosperieren – dies alles war und ist die Schattenseite des sogenannten europäischen Jahrhundertfriedens. Der Schrecken des Holocaust hat nicht eine Besinnung auf das Menschsein gebracht, sondern eine Verdrängung der Barbarei, wie Theodor W. Adorno 1966 schrieb – nicht im Rückblick auf den Holocaust, sondern aus der Sorge heraus, die wir auch für unsere Gegenwart empfinden müssen, nämlich, dass das Grauen gar nicht vorbei ist, sondern weiterhin droht, weiterhin gegenwärtig ist. Ich zitiere aus Adornos „Erziehung nach Auschwitz“: „Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen. Der gesellschaftliche Druck lastet weiter, trotz aller Unsichtbarkeit der Not heute. Er treibt die Menschen zu dem Unsäglichen, das in Auschwitz nach weltgeschichtlichem Maß kulminierte.“
„Erziehung nach Ausschwitz“ ist ein Schlüsseltext auch für jene Wissenschaft, die ich vertrete, der wir als Praxis alle verpflichtet sind, weil es die Wissenschaft des Zwischenmenschlichen ist, des pädagogischen Handelns in Beziehungen, und zwar nicht nur der Eltern-Kind-Beziehung, sondern in der Gemeinschaft, in der Kommune, in Institutionen, in Schule, in Vereinen, in zivilgesellschaftlichem Einsatz. Dieser großartige epochale Essay ist zugleich ein hilfloser Text, der nach Rezepten sucht, die es nicht gibt: Erziehung im weitesten Sinne, im Miteinanderhandeln von Menschen in einer Haltung von zwischenmenschlicher Verantwortung füreinander, ist keine sichere Kunst, sondern ein Wagnis, das immer neu herausfordert, ohne je eine Verlässlichkeit zu bieten, dass das, was wir glauben zu bewirken, auch wirklich bewirkt wird – wir erleben es an den Kindern, wir erleben es an Jugendlichen, wir erleben es an Erwachsenen, an alten Menschen. Die Knöpfe, an denen wir drehen könnten, damit die Menschheit – im Sinne der Aufklärung – zum Guten gebracht werden kann, zum verantworteten bewussten Handeln, sind noch nicht gefunden, auch die Computertomographien, an denen die Neurowissenschaft das menschliche Gehirn studiert, werden darüber keine Auskunft geben, weil das Gute – sofern wir daran glauben können oder wollen – nicht irgendwo eine Verschaltungsstelle besitzt, sondern im Zwischen entsteht. Dort aber ist immer auch die Möglichkeit der entsetzlichen gegenseitigen oder auch einseitigen Zerstörung der Anderen gegeben, die man fürchtet, obwohl wir eigentlich uns selbst fürchten sollten.
Die Versuchung liegt nahe, von einer anthropologischen, dem Menschen anhaftenden Teilung in Gut und Böse auszugehen. Wenn wir derzeitige Wahlergebnisse anschauen, finden wir fast überall 50 Prozent (mal mehr, mal weniger), die für Abspaltung, für Härte im sozialen und ökonomischen Umgang miteinander sind, die Verrohung gegenüber den anderen als legitim behaupten, um das Eigene in Sicherheit zu bringen – und 50 Prozent, mal mehr mal weniger, die dagegen halten, die für etwas eintreten, das Mühe kostet, wonach das Eigene ein Stück weit auch zurückstellt werden muss für das Gemeinsame, für Solidarität, für Aufrechterhaltung von Beziehung, wo Abbruch naheliegender oder sicherer schiene.
Dieses Teilen in Gut und Böse ist allerdings trügerisch, ja eigentlich ist es die Wurzel des Übel, die Matrix des Holocaust. Es ist eine selbstgerechte Haltung, die für sich das Gute beansprucht und eigene Anfälligkeit für Rassismus, für Selbstüberhöhung ausblendet. Wir haben leider historische Belege dafür, wie schnell es gehen kann, dass die Front der Guten, der Überzeugten, der Solidarischen, der Mitfühlenden schwindet auf einen kümmerlichen Rest von Widerstand, der dann der Hetze, Verfolgung, exemplarischen Vernichtung umso gnadenloser preisgegeben ist, während der Großteil der vermeintlichen oder deklarierten „Guten“ sich möglichst unsichtbar macht, bis das Grauen vorbei ist, um dann zu sagen, dass man nichts tun habe können, dass man nichts genaues nicht gewusst habe, dass man es unterschätzt habe, was auch immer – dann werden wieder Namen auf irgendwelchen Tafeln stehen, vor denen Gedenken zelebriert wird. Es könnten jetzt schon die Namen jener Namenlosen sein, die anonym im Mittelmeer ertrinken, die Namen jener, die in Flüchtlingslagern dahinvegetieren – für die wir demokratie- und menschenverachtende Regimes bezahlen, damit sie uns die Drecksarbeit abnehmen, die Namen jener, die gar nie zur Flucht aufbrechen konnten, weil sie an und in Kriegen sterben, die mit unseren Waffen und unserer stillen diplomatischen und politischen Zustimmung geführt werden, die Namen jener, die darben und an Not sterben und deren unter – unwürdigen Bedingungen der Ausbeutung angefertigten – Produkte unseren Schnickschnack ausmachen, ohne dass wir es merken, ohne, dass es uns bewusst wird, ohne dass wir, wenn es bewusst ist, glauben irgendetwas dagegen tun zu können.
Hannah Arendt hat der nach 1945 gängigen Ausrede, dass man gehorchen habe müssen, den vielleicht paradox klingenden Satz entgegengesetzt: „Niemand hat das Recht zu gehorchen.“ Die Idee dahinter ist, dass es kein Recht und somit auch keine Rechtfertigung geben kann, Befehlen wider die Menschlichkeit zu gehorchen, weil deren Ausübung fundamentale Verpflichtungen des Menschen verletzt. Es ist ein strenger Satz, aber würde er beherzigt, wäre der Widerstand nicht auf wenige beschränkt, die verfolgt werden können, sondern es wären viele, die nicht gehorchen würden. Widerstand wäre die Pflicht, Gehorsam ein Unrecht – eine Utopie, ja, vor allem wenn bedacht wird, wie leichtfertig wir – unter Anführungszeichen – „gehorchen“, und zwar unter weit weniger gefährlichen Zwängen, wie wir uns schon freundlichen Konsumzwängen anpassen, ohne deren tödliche Folgen zu bedenken. Wie viele Kinder, wie viele junge Menschen, wie viele Frauen, wie viele Männer sind die Namen der Gegenwart, die an dieser Tafel ergänzt werden müssten, weil sie in Bergwerken und Minen und Fabriken ermatten bis zum Tod, weil ihre Lungen vergiftet werden von Chemie und Schadstoffen für die Herstellung dessen, was unseren Lifestyle ausmacht, von der Kleidung bis zum Smartphone, weil ihre Arbeitskraft ausgebeutet wird, Medikamente und Gesundheitsversorgung ihnen aber vorenthalten werden in einem ausbeuterischen globalkapitalistischen System, an dem wir teilhaben, weil ihnen der Lebensraum entzogen wird für einen Energie- und Rohstoffbedarf, den wir verschwendend mitverursachen, weil wir mit unserem Kraftstoffverbrauch mörderische Regimes reich werden lassen und unsere Demokratien diese protegieren.
Nun könnte, nein muss man einwenden: Das ist ja aber nicht die Systematik des Holocaust, bei dem Menschen ganz gezielt nach bestimmten Kriterien ausgesondert, anhand von penibel erstellen Listen gesucht und abgeschleppt wurden, zusammengetrieben in Konzentrationslagern, in denen technisch raffiniert das Töten ebenso organisiert wurde wie das Leichenbeseitigungsmanagement. Ich möchte an diesem qualitativen Unterschied zwischen dem Holocaust in seiner Einmaligkeit nicht rütteln, weil es zu schnell zu Vergleichen führt, die wiederum sehr schnell die Relativierung ermöglichen. Kein Menschheitsverbrechen ist durch Vergleich in seiner Unverzeihlichkeit verminderbar, jedes muss auch für sich stehen, um die Opfer nicht wieder um ihr ganz eigenes persönliches Leid zu betrügen. Sobald wir Tote aufrechnen, wie viele Millionen da, wie viele dort, wenn wir die Barbarei, wie Adorno sie nennt, messen wollen – wie viel wiegt dann auf dieser Waage das Kind, dem zur Wahrung von Ordnung und Stadtbild vor der Fußball-WM in Brasilien in den Kopf geschossen wird, gegenüber jenen, die nackt in einer Gaszelle stehen, was unterscheidet die Leichen, die in einem Graben übereinander geworfen werden von jenen, die im Mittelmeer dahintreiben, während ein österreichischer Minister Rettungsmaßnahmen als das größere Übel diffamiert. Unrecht, das sich am Menschen vergeht, in Taten, in Worten, in Programmen, in kühlen gesetzlichen Regelungen und Ordnungen, in KostenNutzen-Rechnungen, die das Unrecht legitimieren – all solches Unrecht ist nicht messbar und nicht vergleichbar, aber es sollte empören gegen eine Politik des verengten Herzens und der Kaltblütigkeit.
Und doch sollten wir hinschauen auf das, was am Holocaust nicht historisch einmalig ist (und damit vorbei wäre wie ein Albtraum, der nie wiederkommt), sondern universal und gegenwärtig. Was ermöglicht das Töten nach einem Programm, das von den Tätern als Pflichterfüllung empfunden wird, die geradezu mit einer gewissen Befriedigung erfüllt, weil man wieder einmal das vorgeschriebene Quantum an Tötungen geschafft hat, wie es Hannah Arendt mit der Banalität des Bösen zu benennen versuchte. Was ermöglicht das Wegschauen, das gleichgültige Weitergehen oder auch das Witzeln angesichts offenkundiger, offensichtlicher Barbarei, wie es Qualtinger dem „Herrn Karl“ in den Mund legt, wenn dieser im Plauderton erzählt, dass es eine Hetz gewesen sei, wenn der Nachbar, der Jud‘, mit Zahnbürsten das Pflaster putzen musste, jo mei, da hat man sich ja nichts Böses dabei gedacht. Wie kann das möglich sein? Die Abspaltung von allem, was uns mit anderen Menschen verbindet, so dass sie mit uns nichts mehr gemein haben, ist die Voraussetzung dafür, dass wir nicht mitfühlen mit dem Jud‘, der das Pflaster putzt, weil er ja ein Jud‘ ist, ein ganz anderer, einer, dem die Gemeinsamkeit mit uns, das Menschsein, abgesprochen werden kann – jo mei, dann ist es nicht sehr schlimm, was mit ihm passiert. Denn würden wir die Verbindung aufrechterhalten, die simpel lautet „er ist ein Mensch und wir sind Menschen“, dann müssten wir mitfühlen, könnten wir das Unrecht nicht ertragen. Dies betrifft nicht nur die Beziehung zwischen uns Menschen, sondern auch zwischen uns Menschen und der Natur, zur Heimat Erde, wie Edgar Morin sie nennt. Würden wir uns der Verbindung zwischen Mensch und Natur bewusst sein, dann wäre uns auch bewusst, dass die weiter um sich greifende Zerstörung auch uns zerstört. Das ist das Gefährliche an der Trennung zwischen Gut und Böse, weil wir auch da die Verbindung aufheben, eine Dichotomie – eine Teilung vornehmen, die sehr zweischneidig sein kann – dícha témnein bedeutet im Altgriechischen in zwei Hälften durchtrennen, durchschneiden. Diese Teilung ermöglichte auch den Holocaust, denn wer grad als „gut“ definiert wird (der arische Mensch, wer immer dies sein mochte, denn es hat ihn nie gegeben, er war eine Erfindung, um die Nicht-Arier zu erfinden) und wer als unwert, bedrohlich, ist eine Frage von Machtverhältnissen, von Herrschaftsordnungen. Jede Teilung, die zwei scharfe und nicht mehr verbundene Gegensätze schafft, Mann-Frau, schwarz-weiß, Arier-Nicht-Arier, Jude-Nicht-Jude, Menschen, die hierhergehören, Menschen, die nicht hergehören, Christen und Moslems – alle diese Teilungen erlauben die Überhöhung der einen Hälfte auf Kosten der anderen. Eine Balance ist nur dann möglich, wenn das Verbindende wahrgenommen wird. Die dichotome Trennung macht die je andere Hälfte zu etwas ganz anderem, fremden, die mit uns – Menschen, Europäern, Abendländern, Österreichern – nichts mehr zu tun hat und die in der Folge beherrscht, gedankenlos ausgebeutet, unterdrückt, vernichtet werden kann. Dann ist es vielleicht, wie dem Herrn Karl, ein bisschen unangenehm, wenn Menschen, die sich hier abgemüht haben, Fuß zu fassen, die Sprache zu lernen, solidarisch anderen Geflüchteten zu helfen, sich um Arbeit zu bemühen, von einem Tag auf den anderen abgeschoben werden und ein anderer österreichischer Minister anhand steigender Abschiebezahlen zufrieden konstatiert, dass Österreich – wörtliches Zitat – „Abschiebe-Europameister“ ist. Die Not, das Unglück des oder der Einzelnen verschwindet in einer Statistik der Barbarei und der politischen Verrohung. Dieses Durchtrennen, dieses Abstrahieren – das sind wir, das sind die anderen , deren Leid mit uns nichts zu tun hat, weil sie ja grundverschieden anders sind, also rein mit ihnen ins Flugzeug und zurück nach Afghanistan, wo sie vielleicht der Tod erwartet – ist leider nicht nur ein Fluch der Menschheit, sondern auch eine ihrer größten Begabungen, sie hat es erlaubt, dass wir uns – vermeintlich – aus der Natur herauslösen, dass wir Andere ebenso wie Tiere zu beherrschen lernen durch Strategien der Unterwerfung, die das Mitgefühl mit dem dadurch verursachten Leid, aber auch mit der dadurch drohenden Selbstverletzung ausblenden hilft. Es gibt einen wunderschönen Text einer jener Frauen, die ein Licht in diese Welt bringen hätten können, deren Fackel aber – nicht zufällig der Name jener Zeitschrift von Karl Kraus, in der sie gewürdigt wird – zum Erlöschen gebracht wurde, als würde diese Welt die Nachrichten von Möglichkeiten eines besseren Lebens miteinander statt gegeneinander nicht aushalten – es war Rosa Luxemburg. Sie schrieb Weihnachten 1917 einen Brief aus dem Gefängnis, den Karl Kraus in der Fackel veröffentlichte, weil er ihn für so wichtig fand, dass er zum Schulstoff werden müsse, ähnlich wie in Adornos späterer Überlegung, dass die Erziehung in die Pflicht gerufen werden müsse gegen die Verrohung der Menschen (obwohl gerade die Erziehung vielfach zu dieser Verrohung beigetragen hat und beiträgt – denn was lernen Kinder, Jugendliche, Erwachsene in dem auf Selektion und Konkurrenz, auf bedingungsloses Bessersein ausgerichteten Wirtschafts- und Bildungssystem anderes, als dass sie besser sein müssen als die anderen, um zu bestehen). Der Brief von Rosa Luxemburg, der für Kraus das Potenzial barg, die Teilung, die Abspaltung, die Kälte zu überwinden, handelte nicht von ihrem eigenen Elend im Gefängnis, auch nicht vom Elend von Menschen, sondern von einem Büffel, der unter seiner Last so erschöpft war, dass er nicht mehr weiterkonnte. Als nun ein Soldat im Gefängnishof auch noch auf das zusammenbrechende Tier einschlug, dass ihm die Haut riss, wurde Rosa Luxemburg von Schmerz und Mitgefühl überwältigt: „Ich stand davor, und das Tier blickte mich an, mir rannen die Tränen herunter – es waren seine Tränen“ Für Karl Kraus stand dieses Mitfühlen mit dem Leid eines Tieres stellvertretend für das Mitfühlen für den geschundenen Menschen, für das Leiden an der Rohheit aller gegen alle. Rosa Luxemburg wurde wie viele andere, die diese Welt besser träumen wollten, ermordet, wohl weil dieses Träumen einer besseren Welt eine Provokation ist, es bedroht das Erfolgsrezept der Teilung, der Spaltung in Wir und die Anderen, das ja nicht nur nationale oder kulturelle Selbstgefälligkeit ermöglicht (in der sich auch das verpönte Konzept der rassischen Unterscheidung verbirgt), sondern das auch ökonomische NichtSolidarität, Bereicherung auf Kosten anderer hervorbringt, ohne das auch der gegenwärtige Raubtierkapitalismus, der das Vermögen weniger auf Kosten von Milliarden Menschen anhäuft und weltweit Armut und Tod gebiert, gar nicht denkbar wäre. Solidarität, gemeinschaftliches Denken, das Sich-VerbundenFühlen über die künstlichen Trennungen hinweg ist bedrohlich für Systeme der Ausbeutung und Unterdrückung – sich hier dagegen zu stellen, nicht zu „gehorchen“, ist schwierig, ist dem Einzelnen vielleicht kaum möglich, aber es nicht zumindest zu denken wagen, zumindest im kleinen und möglichen Bereich zu versuchen, hieße vor Auschwitz zu kapitulieren – wagen wir es, im Gedenken jener, von denen hier nur die Namen geblieben sind